Die Lady auf den Klippen
schmerzhaften Stich, denn seit Tagen hatte sie sich keine derartige Erinnerung gestattet. Und dann sah sie ihn vor sich, wie er sie wütend anbrüllte und hinauswarf.
Ihr Herz schlug schneller. Der Boden schien sich zu bewegen. Trauer schnürte ihr die Kehle zu. Und alles vermischte sich – Sir Rex, ihr Vater, ihre Mutter – sie alle waren da, in ihrem Kopf.
Blanche drehte sich um, legte die Hände an die Wangen, schloss ihre Augen, kämpfte gegen die Trauer. Nicht jetzt, nicht jetzt, da alles perfekt ist, bitte, nicht jetzt! Sie hatte einen Weg gefunden, die dunkelsten Punkte ihrer Erinnerung zu umschiffen, doch ein so schlichter Moment war sofort bedrohlich und gefährlich geworden. Bitte aufhören, weinte sie stumm.
Sie durfte einfach nichts empfinden. Nicht jetzt, nie mehr. Sir Rex war ein Teil ihrer Vergangenheit, wie ihr Vater und ihre Mutter, an die sie sich nicht erinnern konnte – und nicht erinnern wollte.
Sie atmete schwer.
„Blanche, was ist geschehen?“, fragte Felicia besorgt.
Blanche spürte, dass sie ihre Ruhe und Fassung zurückerlangt hatte. Sie fühlte sich, als schwebte sie in einem grauen, leeren Raum. Die Gesichter in ihrem Kopf wurden verschwommener. Lächelnd drehte sie sich um. „Nun, ich habe den Brief voreilig geschrieben. Ich werde Sir Rex nicht heiraten.“
Bess wirkte verwundert. „Ich habe deinen Brief vor etwa einer Woche erhalten, und plötzlich machst du dir nichts mehr aus ihm? Ausgerechnet du, die sich noch nie vorher etwas aus einem Mann gemacht hat?“
„Ich möchte nicht über Sir Rex sprechen“, sagte Blanche in weitaus schärferem Ton, als sie es beabsichtigt hatte. Aber das Unbehagen begann und war heftig. Ihr Herz schlug wie wild und weigerte sich, ihrem Verstand zu gehorchen. Ihr war übel, sie hatte ein gebrochenes Herz, und sie fühlte sich krank.
Bess legte einen Arm um sie. „Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt. Wir hatten nie Geheimnisse …“
„Alles stimmt!“, rief Blanche heftig aus.
Bess zuckte zusammen, und Felicia schrie auf.
Blanche merkte, dass sie die Fassung verloren hatte – und so schnell. Wieder stand sie am Rande des Abgrunds, viel zu hoch oben. „Ich brauche Luft!“, rief sie, lief zum Fenster und versuchte, es zu öffnen. In ihren Schläfen pochte es jetzt – und sie hatte Angst, dass aus dem leichten Schmerz jene heftigen Erinnerungen erwachsen würden.
„Diese Fenster lassen sich nicht öffnen“, meinte Bess. „Komm, gehen wir hinaus. Felicia, bring das Riechsalz.“
Blanche wagte nicht, sich zu rühren, presste nur die Hände an die Schläfen.
Hinaus!
Nie hätte sie gedacht, dass Sir Rex sie je so voll Zorn und Hass anschreien würde.
Kommen Sie aus der Kutsche, Lady, heraus jetzt.
Das Monster griff nach Mama. Blanche begann zu zittern, als ihre Mutter ihre Hand so fest drückte, dass es wehtat.
„Kommen Sie sofort heraus!“, rief er.
Und plötzlich wurde Mama aus der Kutsche gezerrt, und Hände griffen nach Blanche.
Ihre Mutter schrie: „Lauf, Blanche!“
Irgendwie gelang es ihr, sich zu befreien, und sie fiel auf das Straßenpflaster. Mama schrie wieder, diesmal vor Schmerz.
Die gepflasterte Straße drehte sich. „Mama!“, rief sie und versuchte, zu ihr zu kriechen. Aber der Boden drehte sich schneller, immer schneller, und die Schreie ihrer Mutter waren ohrenbetäubend.
Blanche gab auf, rollte sich zusammen, starr vor Schrecken. Sie hielt sich die Ohren zu und begann, sich auf die blaubeigen Teppiche auf dem Boden zu konzentrieren und nicht mehr auf die Straßensteine. Die Teppiche drehten sich. Sie drehte sich. Und Bess sprach mit ihr.
Tief holte sie Luft und fühlte, dass der Anfall vorbei war. Sie kauerte auf dem Boden im blauen Zimmer, so wie sie auf der Straße gekauert hatte, nachdem sie gepackt und aus der Kutsche gezerrt worden war. Seit sie Land’s End verlassen hatte, hatte sie sich an nichts mehr erinnert, und jetzt hatte Bess über Sir Rex gesprochen, und sie bekam einen Anfall.
Bess hielt ihr ein Glas Wasser an die Lippen, den Arm um sie gelegt. „Trink einen Schluck.“
Blanche nickte und spürte, dass ihre Wangen nass waren von Tränen. Sie trank und war sich sicher, dass ihre Freundinnen sie für verrückt halten mussten. Langsam sah sie zu Bess hoch.
Die Freundin sah sie aus großen Augen an. „Geht es dir besser?“, fragte sie.
Blanche nickte. „Wir
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