Die Lady auf den Klippen
sie tief Luft und sammelte sich, ehe sie vortrat. „Mary!“
Mary de Warenne strahlte und umarmte sie. „Ich habe schon sehnsüchtig auf den Tag gewartet, an dem du wieder Besucher empfängst!“, rief sie aus. „Ich hätte dir beinahe eine Nachricht geschickt.“
Blanche versuchte, sie anzulächeln, und spürte, wie heftig ihr Herz schlug. Glaubte Mary womöglich, sie wäre mit ihrem Sohn verlobt? Sie drehte sich um und umarmte Lizzie. „Wie geht es dir?“
„Mir geht es gut. Aber vielleicht nicht so gut wie dir.“ Auch Lizzie strahlte.
Blanche brachte kein Lächeln mehr zustande, als sie sich an Eleanor wandte, eine hochgewachsene Blondine mit bernsteinbraunen Augen. „Ich habe nicht gewusst, dass du in der Stadt bist, meine Liebe. Wie geht es dir? Und Sean? Wie geht es den Jungen?“
„Sean geht es gut – und den Jungen auch.“ Eleanor ergriff ihre Hände. „Bist du nun mit meinem Bruder verlobt oder nicht?“, rief sie aus.
Blanche sah sie nur an und hatte solches Herzweh, dass sie es kaum ertragen konnte.
Eleanor hielt noch immer Blanches Hände. „Rex hat an Ty geschrieben, dass ihr verlobt seid. Ist es noch ein Geheimnis? Wann kommt er in die Stadt? Was ist passiert? Du musst verliebt sein – sonst würdest du nicht meinen grüblerischen Bruder nehmen.“
Blanches Herz schlug heftig. Kummer stieg in ihr auf. Sie hatte Sir Rex geliebt, liebte ihn noch immer – und das würde so bleiben. Sie versuchte zu atmen und sich Eleanors Griff zu entziehen.
„Eleanor, Liebes, du regst Blanche auf“, sagte Mary ruhig. Ihre Augen wirkten traurig.
„Es war ein Fehler“, flüsterte Blanche und bemerkte Bess im Hintergrund, die sie beobachtete, blass und mit fragendem Blick. Tränen traten ihr in die Augen und liefen ihr über das Gesicht. „Es tut mir leid, wir sind nicht verlobt.“
Sprachlos und maßlos enttäuscht sahen die drei Damen sie an.
Es ist ein Fehler.
Hinaus!
Kommen Sie aus der Kutsche, Lady.
Das Messer bohrte sich in ihren Schädel. Und die Schreie begannen.
Der Raum schwankte heftig, die Entsetzensschreie ihrer Mutter füllten ihn ganz aus. Die gut gekleidete Menschenmenge veränderte sich, wurde zu einer Meute einfacher Arbeiter, die Kerzenleuchter verschwanden, der Himmel wurde grau. Die Schreie waren Schreie des Schmerzes und des Entsetzens.
Blanche wusste, dass sie jetzt nicht zu einem sechsjährigen Kind werden durfte, solange sie von Gästen umringt war. Aber die Schreie hörten nicht auf, und aus den Teppichen wurden Pflastersteine. Das goldene Zimmer verschwand schließlich vollständig, wurde ersetzt von Londoner Straßen und einem tobenden Mob. Sie presste die Hände auf die Ohren und rannte.
„Blanche, lauf!“, schrie ihre Mutter, und dann veränderte sich ihr Schrei.
Sie sah, wie Mama stürzte, sah die Männer über ihr, die mit Piken und Forken auf sie einstachen. Sie schrie, hatte Angst, fortzulaufen, und Angst zu bleiben. Sie taten Mama weh. Doch deren Schreie verstummten, gerade als Hände nach ihr griffen …
Sie versuchte, sich zusammenzurollen, sich vor den Männern zu schützen, und schluchzte. Aber sie wurde hochgehoben und sah in die hellen Augen des Monsters. Ihr Entsetzen steigerte sich ins Unermessliche – und dann wurde es dunkel.
Eine lange Zeit schwebte sie auf Wolken, spürte, wie sie aufwachte, ohne es zu wollen. Wenn sie könnte, würde sie für immer so bleiben, friedlich, nur halb bei Bewusstsein. Aber das Grau verschwand. Helles Licht schimmerte durch ihre geschlossenen Lider. Blanche amtete das Salz ein, und der beißende Geruch erschreckte sie, weckte sie – und sie hustete.
Sie lag auf dem Sofa im blauen Salon. Bess und Felicia waren bei ihr – und die Tür war fest verschlossen. Hinter der geschlossenen Tür hörte sie die Gäste. In diesem Augenblick erinnerte sie sich an das, was geschehen war.
„Oh weh!“ Entsetzt richtete sie sich auf.
Bess hielt sie zurück. Sie wirkte ernst und sehr blass. „Du bist nur kurz ohnmächtig gewesen. Leg dich wieder hin.“
Blanche beachtete sie nicht. „Bitte sag mir, dass ich nichts getan habe, was ich bedauern müsste.“
Felicia stand hinter Bess, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. „Du hast geschrien, dann bist du durch das Zimmer gelaufen und gestürzt. Du hast dich weinend auf dem Fußboden zusammengekauert.“
Blanche saß ganz still und versuchte, nichts zu
Weitere Kostenlose Bücher