Die Lady mit dem Bogen
König Henry wolle Poitiers ebenso gnadenlos dem Erdboden gleichmachen, wie er die Dörfer und Fluren im Norden verheert hatte. Saxon schenkte diesen Gräuelmärchen kein Gehör. Der König würde keine Stadt zerstören, die ihm die Verstärkung ihrer Mauern und die Renovierung ihrer Kirchen verdankte.
Saxon war jedoch klar, dass die meisten Menschen diesen Gerüchten Glauben schenkten. Von dem Augenblick an, als er die Stadt durch die offenen und unbewachten Tore betreten hatte, wusste er, was sie im Palast vorfinden würden.
Er war verlassen. Die Tapisserien waren von den Wänden der großen Halle verschwunden, ihre Halterungsseile lagen in wirrem Durcheinander auf dem Boden. Hinter den geschlossenen Fenstern war die Luft in dem großen Raum muffig und abgestanden. Schatten sammelten sich nahe den geschlossenen Türen. Die Bänke an der erhöhten Tafel waren umgekippt. In der Mitte der großen Bodenfläche stand ein einzelner Schuh.
Er ging die Stufen zur nächsten Feuerstelle hinauf und bückte sich, um die Asche zu prüfen. In den tieferen Schichten hatte sich noch ein wenig Wärme gehalten. »Sie können nicht länger als einen Tag fort sein«, sagte er und richtete sich auf.
Mallory lehnte ihren gespannten Bogen an ihren Fuß. Wie sie mitten im Raum dastand, vom letzten Licht des Tages eingehüllt, das ihr Haar blauschwarz schimmern ließ, konnte er verstehen, warum die Äbtissin sie als Beschützerin der Königin vorgeschlagen hatte. Sie sah aus, als könne sie eine ganze Armee allein bezwingen.
»Aber wir sind ihnen nicht auf der Straße begegnet.«
»Gut möglich, dass sie sich in verschiedene Richtungen zerstreuten. Die Königin hat im Süden Aquitaniens viele Verbündete.«
»Sie ist nicht im Süden«, sage Jacques Malcoeur, als er aus dem Schatten einer Tür am entgegengesetzten Ende der Halle trat.
Saxon staunte über das Aussehen des gewöhnlichen Diebes. Er trug ein beflecktes Schwert, zwei Dolche ragten aus einer seidenen Schärpe um seine Leibesmitte.
»Was treibt Ihr hier, Malcoeur?«, fragte er.
»Da ich keinen Pfeil vorfand, der mir eine Audienz angezeigt hätte, machte ich mich auf die Suche nach Euch.« Sein Blick huschte von Saxon zu Mallory und zurück.
Saxons Daumen strich über den Griff seines Schwertes. Er wünschte, er hätte seinen Bogen zur Hand gehabt, den er bei seinem Pferd im Hof zurückgelassen hatte. Da abzusehen war, dass er nicht vor dem Dieb bei Mallory sein konnte, passte er sich den Schritten Malcoeurs vorsichtig an, um ihn in Sicherheit zu wiegen.
Mallory rührte sich nicht. Sie hob ihren Bogen nicht und griff auch nicht nach einem Pfeil. »Ihr habt uns gefunden, Monsieur Malcoeur. Was nun?«
»Zuerst fand ich die Königin«, sagte Malcoeur und blieb eine Armeslänge vor ihr stehen. Er senkte sein Schwert. »Ich traf sie bei den Vorbereitungen für ihren Aufbruch an. Als ich erklärte, warum ich in den Palast gekommen war, sagte sie, ich solle ihn bis zu ihrer Rückkehr bewachen.«
»Sie wird vielleicht nie wieder zurückkehren«, sagte Mallory. »König Henry könnte zuerst eintreffen. Nehmt Euch, was Ihr an Wertvollem finden könnt, und seht zu, dass Ihr hier wegkommt.«
»Sie hat recht.« Saxon blieb neben ihr stehen. »Nehmt was Ihr könnt, solange Ihr könnt. Der König ist mit seinen Truppen nicht weit hinter uns.«
Der Dieb schluckte und nickte. Als er sich umdrehte und hinauslaufen wollte, stieß er fast mit einer Frau zusammen, die eben eintrat.
Mallory schnappte nach Luft, lief Ruby entgegen und umarmte sie. »Was machst du hier noch? Du hättest mit der Königin gehen sollen!«
»Ich wusste, Ihr würdet zurückkommen und erfahren wollen, wohin die Königin ging.« Die Dienerin stieß einen Pfiff aus, und Chance kam hereingelaufen und umsprang alle drei.
Saxon bückte sich und beruhigte den Hund. »Malcoeur sagte, ihr Ziel wäre nicht der Süden.«
»Nein, sie ist mit ihren getreuesten Gefolgsleuten nach Norden aufgebrochen. Die Comtesse blieb etwas länger und ging erst heute bei Tagesanbruch.«
»Wo ist das Ziel der Königin?«, fragte er.
»Ich hörte, dass sie sich auf das Château ihres Onkels Raoul de Faye zurückziehen möchte.«
»In Faye-la-Vineuse?« Er richtete sich mit einem zornigen Fluch auf.
Als er Mallory anblickte, sah sie ihm an, dass er bereits die nächsten Möglichkeiten erwog. Sie zu warnen, dass sie ihr Leben für einen so gut wie verlorenen Kampf aufs Spiel setzte, würde sie nicht umstimmen. Die knappen Antworten,
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