Die Lady mit dem Bogen
die Schwingung der Bogensehne würde Saxon oder Ruby nicht wecken, als sie sich auch schon aus dem Fenster beugte und den Pfeil abschoss. Er bohrte sich in den Fensterladen, freilich nicht so hoch, wie sie beabsichtigt hatte. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass die Schlafenden sich nicht rührten.
Chance hob den Kopf, legte ihn aber auf ein Zeichen Mallorys hin sofort wieder auf die Pfoten.
Mallory schoss zwei weitere Pfeile ab, ebenfalls mit dem Stück Seil verbunden. Sie trafen ein paar Zoll vom ersten Pfeil entfernt auf. Nun setzte sie sich auf die Fensterbrüstung, hängte den Bogen über die linke Schulter und vergewisserte sich, dass der Köcherriemen fest auf der rechten lag. Sie prüfte, ob der Beutel mit Reservepfeilen an ihrer Taille gut festgebunden war.
In den Ärmeln konnte sie keine Pfeile verstecken, da sie die Sachen trug, die sie unter dem Bett versteckt hatte, vermutlich für einen der Prinzen bestimmte Kleidungsstücke, die ihr ganz annehmbar passten. Das Übergewand, das ihr bis halb über die Schenkel reichte, verlieh ihr das Gefühl, züchtig gekleidet zu sein. Ihr Haar hatte sie geflochten und unter eine Mütze gesteckt. Sie hoffte, es würde halten, bis sie die Königin erreichte.
Mit der Ermahnung, sich nicht um so törichte Dinge zu sorgen, schwang sie ihre Beine aus dem Fenster. Sie zog prüfend am Seil. Ob es halten würde, wenn sie sich hinunterschwang, konnte sie nicht beurteilen, doch musste sie das Risiko eingehen.
Als sie nach dem Seil fasste und sich vom Fenster abstieß, spürte sie, dass es nachgab. Da auch auf die Pfeil-Halterung wenig Verlass war, ließ sie sich so rasch hinuntergleiten, dass ihre Hände vom groben Hanf aufgeschürft wurden. Und dann fiel sie. Sie rollte sich beim Aufprall ab, Seil und gebrochene Pfeile landeten auf ihr.
Mallory verschluckte ein Stöhnen, als sie sich aufsetzte. Sie war nur ein paar Fuß gefallen, trotzdem schmerzte jeder Zoll an ihr. Mit angehaltenem Atem blickte sie zum Fenster empor. Wenn Ruby oder Saxon ihren Fall gehört hatten, würden sie nachsehen.
Da sich keiner der beiden blicken ließ, lief sie eng an die Mauer gedrückt und im tiefsten Dunkel zum Stall. Sie musste ein Pferd finden, auf dem sie die acht Meilen nach Faye-la-Vineuse in gestrecktem Galopp zurücklegen konnte. Jede verlorene Minute konnte diejenige sein, die den Tod der Königin bedeutete.
»Wo ist sie?«, herrschte Saxon Malcoeur an und hielt ihm sein Schwert an die Brust. Das erste Licht der Morgendämmerung schob sich über den Hof. »Wenn du ihr etwas angetan hast …«
Der Dieb schluckte hastig und schüttelte den Kopf. »Ich krümmte ihr kein Haar. Wir waren die ganze Nacht beschäftigt, das hier zusammenzutragen.« Er wies mit einer knappen Geste auf die Haufen von Bekleidung und Hausrat in einer Ecke des Hofes.
»Hast du sie gesehen?«
»Nein.« Wieder würgte er, dann stieß er hervor: »Ich schwöre es. Ich habe Lady Mallory nicht gesehen.«
Saxon senkte sein Schwert. Mit einem Fußtritt beförderte er das Seil, auf das er unter Mallorys Fenster gestoßen war, aus dem Weg und bedachte die zerbrochenen Pfeile, die ihr gerade so viel Halt geboten hatten, um unentdeckt zu entkommen, mit einem finsteren Blick. »Sie kann doch nicht einfach verschwunden sein.«
Einer von Malcoeurs Kumpanen drängte sich vor. »Mylord … Sir, letzte Nacht war noch jemand im Hof.«
Er erkannte den Kerl als denjenigen, der am Abend von Mallorys Ankunft auf dem Pier gesessen und gesungen hatte. »Wer?«
»Ein Junge.«
»Was machte er?« Argwohn erfasste Saxon.
»Er nahm sich ein Pferd und ritt davon.«
»Hatte er einen Bogen?«
Der Mann runzelte die Stirn. »Ich glaube ja.«
Saxon beförderte das Seil mit einem Tritt und einem Fluch über den ganzen Hof. »Sie muss sich als Junge verkleidet haben.«
Ruby, die hinter ihm auf den Stufen saß, schnappte laut nach Luft. »Das würde sie nie tun! Eine Frau in Männerkleidung macht sich der Ketzerei schuldig.«
»Glaubt Ihr, die Androhung von Exkommunikation würde Mallory de Saint-Sebastian davon abhalten zu tun, was sie für die Rettung der Königin für nötig erachtet?« Er schritt auf den Stall zu.
»Wohin wollt Ihr?«, rief Ruby.
»Na, was glaubt Ihr?« Er berührte das Briefbündel unter seinem Gewand, wohl wissend, dass der Königin und ihren Getreuen ein qualvoller Tod bevorstand, wenn es den Männern des Königs in die Hände fiel. In Poitiers konnte er die Briefe nicht zurücklassen. Vielleicht
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