Die Lady mit dem Bogen
dieser Zügellosigkeit nichts zu schaffen haben. Der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht, als ihre Lippen prickelten, als hätte sie etwas gestreift. Aber was? Eine Erinnerung, wage und fern, verunsicherte sie. Die Erinnerung an Fitz-Justes Gesicht aus nächster Nähe, starke Gefühle, die aus seinen Augen sprachen; Augen, die sich schlossen, als sein Mund sich auf ihren senkte.
Sie schüttelte den Kopf, um das Bild zu bannen. Eine Erinnerung oder ein Fetzen Albtraum, den sie in dem Prunkbett geträumt hatte?
Sofort wünschte sie, sie hätte den Kopf nicht so unbedacht geschüttelt. Alles drehte sich. Sie fasste nach der Mauer. Als sie nach Luft schnappte, weil es schwarz um sie wurde, schwankte sie wie ein Rohr im starken Wind.
Eine Hand erfasste die ihre, eine andere stützte ihren Ellbogen, um sie am Fallen zu hindern. Ihre Finger umklammerten die breite Handfläche, während sie darauf wartete, aus dem ebenholzschwarzen Abgrund befreit zu werden. Als sie behutsam auf eine Stufe gesetzt wurde, hatte sie das Gefühl, bei jeder Bewegung in Stücke zu brechen. Sie griff nach der steinernen Kante und atmete tief ein.
Langsam kam das Licht wieder. Und als sie spürte, dass sie blinzelte, explodierte die Welt um sie herum förmlich. Laute kamen aus allen Richtungen: Vögel sangen, Menschen redeten, Wasser plätscherte. Sie atmete tief ein. Alles neigte sich ein wenig und richtete sich wieder auf.
Als sie gewahr wurde, dass sie noch immer die Hand desjenigen hielt, der ihr zu Hilfe geeilt war, sagte sie: »Danke … Euch!«
Fitz-Juste lächelte kühl. »Euer Ton verrät, dass Ihr wieder ganz bei Sinnen seid.«
Sie entzog ihm ihre Hand und stand auf. Wie schon oben in ihrem Gemach sorgte sie dafür, dass ihre Knie nicht unter ihr nachgaben. Vor Fitz-Juste umzufallen wäre demütigend gewesen. Sie schob ihren Bogen über ihre Schulter.
Als er zugleich mit ihr aufstand, war sie erstaunt, dass sie zu ihm aufschauen musste. In der Abtei war sie es gewohnt, die Größte zu sein, da es dort außer dem Priester und den Feldarbeitern keine Männer gab.
»Kann das sein?«, fragte er, sie mit langsamen, gemessenen Schritten umkreisend. »Könnt Ihr dieselbe Frau sein, die ich am Kai sah? Wo ist der Schmutz in Eurem Gesicht?«
»Lasst diese Albernheiten! Ich muss …«
»Was ist albern daran, wenn man eine Frau bewundert? Ihr versteckt Eure ansehnlichen Rundungen nicht mehr unter einem dicken Umhang. Ihr tragt nicht mehr die Erinnerung an jede einzelne Meile Eurer langen Reise zur Schau. Mit Eurem schwarzen, an Rabengefieder gemahnenden Haar, das Euch so lose fast bis zur Taille reicht, seht Ihr aus, als würdet Ihr hier zu Königin Eleanors Hof gehören.«
»Eure schönen Worte brauche ich nicht. Ich brauche vielmehr Eure Hilfe, um zu den Gemächern der Königin zu gelangen.«
Er lächelte, setzte aber hinzu, als ob sie nichts gesagt hätte: »Ein schlichtes Gewand wie dieses betont Eure Schönheit, während der ziselierte Griff Eurer Klinge Männerblicke über Eure Brüste zu Eurer Taille zieht, eine sehr angenehme Erkundung, die jeder Mann mehr als einmal genießen möchte. Der Stoff Eures Gewandes entspricht genau der Farbe Eurer Augen.« Er stieg eine Stufe höher. »Und diese liegen nur eine Handbreit unter meinen. Eine sehr gefällige Anordnung. Mit dem frisch gewaschenen Gesicht, ohne die Schönheitsmittel, die andere Frauen auflegen, wirkt Ihr erstaunlich zart.«
»Äußerlichkeiten können irreführend sein«, sagte sie. Sie ließ sich auf seine gewandten Worte nicht ein, die nicht höher zu bewerten waren als Eselsgeschrei. »So frage ich mich beispielsweise, ob Ihr etwas im Auge habt?«
Er runzelte die Stirn. »Nein. Warum fragt Ihr?«
»Es sieht aus, als ob Ihr die Augen nicht bewegen könntet.«
»Fällt es Euch so schwer zu glauben, dass Ihr einen angenehmen Anblick bietet?«
»Mir fällt es schwer zu glauben, dass Ihr ausgerechnet jetzt daran denkt.«
»Dann wisst Ihr nichts von Männern.«
Mallory musste dem Gespräch sofort ein Ende machen. Sie wusste sehr wohl etwas von Männern. Sie wusste von ihren Gelüsten, wusste, wie diese eine Familie zerstören konnten. Fitz-Juste die Wahrheit zu sagen würde den geheimen Schmerz enthüllen, von dem sie nicht wollte, dass er wieder ihr Leben beherrschte.
»Ich weiß genug«, sagte sie, »um zu merken, dass Ihr hinter Eurem Gerede etwas verbergt.«
Er zuckte zusammen, sie aber empfand kein Siegesgefühl, als seine lohfarbigen Brauen sich senkten.
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