Die Lady mit dem Bogen
Henry der Ältere die Stadtmauern hatte verstärken lassen, da die Befestigungsanlagen des Palastes höchst unzulänglich waren.
Ruby sagte leise: »Ihr solltet den Rest des Tages der Ruhe pflegen. Ihr seid so farblos wie Euer Nachthemd.«
»Ein wenig Sonne wird meine Farbe verbessern.« Mallory riss den Blick von einem Garten los, in dem Menschen aus für sie unerfindlichen Gründen umherwanderten, zog ein purpurnes Gewand über den Kopf und stand auf, damit Ruby die Öffnung am Rücken schnüren konnte. Das Kleid war ihr ein wenig zu kurz und reichte nur bis zu den Knöcheln. Lange Stoffbahnen fielen vom unteren Ärmelrand bis unter die Knie. Sobald sie mit der Königin gesprochen hatte, würde sie sich in ihr Gemach zurückziehen und den Saum herauslassen.
»Meint Ihr, dass jemand Anstoß daran nimmt, wenn ich mir die Ärmel ein wenig zurechtmache?«, fragte sie.
»Wenn Ihr Spitzenbesätze wollt, Mylady …«, setzte Ruby verwirrt an.
»Nein, das meine ich nicht.« Sie schwenkte die Arme. »Diese absurden Ärmel behindern meine Bewegungen.«
»Aber Mylady, alle am Hof tragen solche Ärmel. Sich nicht so zu kleiden wäre eine Beleidigung der Königin, deren ganzer Stolz ihr eleganter Hof ist.«
Seufzend gab Mallory sich geschlagen. »Habt Ihr Seidenbänder, die ich in mein Haar flechten könnte?«
»Das Haar zu flechten wird schmerzhaft sein. Ihr solltet es offen tragen, bis Eure Wunde verheilt ist.«
Sie erwog Widerspruch, doch verriet ihr der entschlossene Zug um Rubys Mund, dass die Dienerin in diesem Punkt zu keinem Kompromiss bereit war. Und darin hatte sie wohl auch recht, wie Mallory insgeheim zugeben musste. Sie durfte sich bei der Besprechung mit der Königin nicht von hämmernden Kopfschmerzen ablenken lassen.
Als die Dienerin ihr einen weißen Schleier reichte, bedeckte Mallory damit vorsichtig ihr Haar. Fast wäre sie zusammengezuckt, als Ruby ihr einen Silberreif auf die Seide drückte, um den Schleier zu fixieren, und sie war froh, als Ruby sich hinkniete und ihr in die flachen Schuhe half, die ihr besser passten, als sie zu hoffen gewagt hatte.
Im Stehen legte sie den Schwertgürtel um und steckte ihr Schwert und einen kürzeren Dolch ein. Sie griff nach ihrem Köcher und furchte die Stirn. Zwei ihrer Pfeile waren geknickt. Sie mussten gebrochen sein, als sie auf die Straße gestoßen worden war. Sie warf sie auf den Tisch. Ganz unbrauchbar waren sie nicht, da sie die Federn und die Spitzen wieder verwenden konnte, wenn sie geeignetes Holz fand, um daraus dünne Schäfte zu schnitzen. Sie hängte den Bogen über die Schulter, dann den Riemen des Köchers. Nun fühlte sie sich endlich bereit, zur Königin zu gehen und sich ihr zu präsentieren.
»Möchtet Ihr wirklich schon hinausgehen?«, fragte Ruby, als Mallory bei ihrem ersten Schritt in Richtung Tür ein wenig schwankte.
»Ich bin hier, um der Königin zu dienen, und darf sie nicht länger warten lassen.«
»Sicher weiß die Königin, dass Ihr verletzt seid.«
»Wer …? Ach, Fitz-Juste.« Eine neue Woge der Erinnerungen überflutete sie – Szenen aus der Abtei, vom Kai und von den Straßen Poitiers. In jeder dieser Szenen versuchte Fitz-Juste, ihr zu beweisen, dass er besser war. Und sie konnte sich an sein Erstaunen über ihren Erfolg erinnern, da er doch auf ihr Versagen gefasst war.
»Fitz-Juste? Ach, Ihr meint Saxon.« Rubys Lächeln wurde breiter.
»Er ist sehr geschickt … mit der Laute und auf andere Weise.«
»Er ist geschickt?« Das erstaunte sie, bis ihr einfiel, dass er einen der Diebe verletzt hatte. Wie, das wusste sie nicht mehr. »Mit welcher Waffe?«
Ruby blinzelte ihr lachend zu. »Mit der Lieblingswaffe eines Mannes. Mit derjenigen, die er zwischen den Beinen trägt.«
Hitze überflutete Mallory, sie wandte rasch den Blick ab. »Vergebt mir«, sagte Ruby »Ich wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen.«
»Das habt Ihr nicht.« Mallory ging zur Tür, öffnete sie und trat hinaus auf den Gang, ehe der Rest ihrer Worte, die ihr bitter auf der Zunge lagen, aus ihr hervorbrechen konnten. Sie schloss die Tür hinter sich und ging, so rasch es ihre unsicheren Beine erlaubten, den Gang entlang.
Die Worte der Frau hatten sie nicht in Verlegenheit gebracht. Sie hatten sie aufs Höchste erbittert. Sie wusste nur zu gut, wie ein Mann sich von dem beherrschen lassen konnte, was Ruby die bevorzugte Waffe eines Mannes und seine Gelüste genannt hatte. Ihr Vater, der hochangesehene Lord de Saint-Sebastian, hatte nichts
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