Die Lady mit dem Schwert: Roman (German Edition)
während Guy mit jämmerlicher Miene zusah.
»Wer seid Ihr?«, fragte der andere Mann, der noch immer vor ihr stand.
»Ich bin Lady Avisa de Vere«, antworte sie und benutzte den ihr zustehenden Titel, da sie vermutete, dass er dann eher gewillt wäre, ihr Beachtung zu schenken. »Bitte, meldet Lord de Sommeville meine Ankunft.«
Ihre Vermutung traf zu. Der Mann verbeugte sich mit einer höflichen Geste. »Sofort, Mylady.«
Mit Hilfe der Männer, die neugierig alles beobachtet hatten, wurde Baldwin in den Haupttrakt getragen und die Treppe hinauf in einen Raum mit einem richtigen Bett gebracht. Das Kopfteil war mit geschnitzten Tierfiguren verziert. Die Bettvorhänge waren mit Ranken und Blumen bestickt. Baldwins Gesicht war so bleich wie die saubere Bettwäsche unter ihm.
»Schließt die Fensterbalken«, befahl Avisa einem Mann. Sie wollte mit der Linken zum Fenster weisen, wurde aber von einem jähen Schmerz in der Schulter daran gehindert. Ihr Stöhnen unterdrückend, sagte sie zu einem anderen Mann: »Lass Feuer machen. Sag Martha in der Vorratskammer, dass wir Heilkräuter und Wasser brauchen. Heißes Wasser.«
»Und saubere Lappen«, setzte Christian hinzu, als der Mann zur Tür lief.
Sie versuchte Christian mit einem Lächeln aufzumuntern, da sie wusste, wie groß seine Angst um den Jungen war. Es gelang ihr nicht, und sie strich ihm wieder in wortlosem Mitgefühl über den Arm.
Als er sie jäh in seine Arme nahm, erschrak sie. Sein Kuss war hart und tief, als hoffe er, verborgene Kraftquellen in ihr aufzuspüren und zu teilen. Ebenso jäh gab er sie frei, und sie suchte am Bettpfosten Halt. Er sah sie ungläubig an. War er selbst verwundert, weil ihn seine Fassung jäh im Stich gelassen hatte, als sein Page verwundet vor ihm lag?
Er hatte sich bei ihr so lange zurückgehalten. Könnte sie ihr eigenes Verlangen nach ihm bezwingen, wenn es um seine Zurückhaltung geschehen war? Ein Schauer erfasste sie gleichermaßen angstvoll und begierig.
Ein Brummen von Guy, der auf einer Bank saß, die sie nicht einmal bemerkt hatte, löste Avisa aus dem Bann, der Christians Kuss gewoben hatte. Sie konnte sich nicht immer darauf verlassen, dass jemand sie störte. Sie musste sich selbst zügeln, bis sie einen anderen Weg fand, Christian dahingehend zu beeinflussen, dass er Canterbury mied. Mit seinen Gefühlen zu spielen, war nicht der richtige Weg, ihn zu überzeugen.
»Christian«, sagte sie,« geh und sprich mit unserem Gastgeber, während ich mich um Baldwin kümmere. Sag ihm, dass du mit mir reist, er wird dich willkommen heißen.«
Sie hätte ihre Worte gern zurückgenommen, als sie sah, wie seine Miene sich verhärtete. Er musste sie als Anspielung aufgefasst haben, dass Lord de Sommeville die Söhne Lord Lovells nicht ohne weiteres empfangen würde. Um der Königin einen Gefallen zu tun, hatte der Baron sie aufgenommen, wenn Avisa auch bezweifelte, dass de Sommeville den wahren Grund kannte. Sie musste vorsichtig sein. Erregte sie Christians Unwillen, würde er sich auf den Weg machen, sobald Baldwin einigermaßen mithalten konnte.
»Lord de Sommeville«, fuhr sie fort, »weiß sicher, dass ich ihn aufsuchen und um Beistand bei der Rettung meiner Schwester bitten will. Bitte ihn, mir seine Hilfe anzubieten.«
»Sind wir Eure Pagen, die Euch zu Diensten sind?«, fragte Guy mit einem neuerlichen Stöhnen. Als sie ihn ansah, drückte er eine Hand auf seine Seite und krümmte sich wie in Todespein. »Der Junge ist nicht der Einzige, der leidet«, murmelte er.
Sie verschluckte die Worte, die sie nicht aussprechen konnte, wenn sie Guys Gejammer auch noch so satt hatte. Er hätte sich seine weiteren Verwundungen erspart, wenn er auf seine Schritte geachtet hätte, anstatt sich im dichten Dornengestrüpp zu verfangen. Nicht ein einziges Mal hatte er sich nach Baldwins Befinden erkundigt.
»Gehen wir«, sagte Christian. Als sein Bruder aus dem Raum hinkte, hielt Christian inne und sagte: »Danke, Avisa.«
»Danke mir, wenn Baldwin wieder wohlauf ist.«
Er kam zurück und hob mit einem gekrümmten Finger ihre Lippen zu seinen. Sein Kuss war so sanft, wie der letzte verzweifelt gewesen war, doch Avisa durchpulste dasselbe Verlangen. Ihre rechte Hand glitt seine Brust hinauf, und in seinen Augen blitzten wieder die silbernen Flammen auf.
»Avisa, ich stehe in deiner Schuld, nicht nur, weil du dich Baldwins annimmst, ich stehe auch in deiner Schuld, weil du wagtest, was mein Bruder nicht wagte. Du hast uns das
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