Die Lady mit der Lanze
balancierte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Elspeth wog ihren Stock mit beiden Händen. Sie beobachtete den Mann genau, als er vortrat. Seine langsamen Bewegungen ließen vermuten, dass er seine Kraft Mühsal und Plackerei verdankte. Als er einen Schritt näherkam, verströmte er den Geruch nach Mist und feuchter Erde.
Er stieß mit dem Stock gegen sie. Sie wurde einige Schritte zurückgeworfen. Gryn, der sie auffing, war es zu verdanken, dass sie auf den Beinen blieb. Sie dankte ihm mit einem Nicken und richtete sich auf.
»Kämpfst du immer so zurückhaltend?«, rief sie. »Sag mir, wenn du für eine richtige Runde bereit bist!«
»Ich bin bereit!« Er ließ den Stab um seinen Kopf kreisen. »Bist du so weit?«
Wie gern hätte sie gerufen: »Nein!«. Stattdessen suchte sie sich eine Stelle, von der aus sie jede seiner Bewegungen einschätzen konnte. Sie wich mit einem Sprung aus, wenn er mit seinem Stock, der ihr lang wie ein Baum vorkam, gegen sie ausholte. Traf er sie nur ein einziges Mal, würde er sie zerschmettern.
Seine Bewegungen wurden langsamer, während sie ihn ununterbrochen umkreiste, ein Zeichen, dass er müde wurde. Als sie ihn mit Beleidigungen reizte, brüllte er auf und ging mit erneuter Kraft auf sie los. Rufe aus dem Publikum forderten, den Kampf zu beenden. Falls er sie auch hörte, tat er doch nichts dergleichen.
Ihr Name wurde gerufen. Tarran? Warum war er nicht beim Karren und bewachte Llech-lafar ?
Der Stock des Riesen traf ihren. Sie hörte Holz brechen, doch hielt der Stock stand. Dann traf der Stock des Mannes sie am Kopf. Nicht direkt, denn das hätte sie getötet. Er prallte von ihrem Stock ab und streifte sie seitlich am Kopf. Sie taumelte, fiel auf die Knie.
Aus allen Richtungen drangen Geräusche auf sie ein. Keine der Stimmen ergab Sinn, da das Dröhnen in ihrem Kopf alle Worte übertönte. Hatte man die Glocke aus St. Govan’s Chapel in ihren Schädel verpflanzt? Dunkelheit umschloss sie, und unversehens befand sie sich am Rande eines ins Nichts abfallenden Felsabhanges.
Sie hob den Blick. Der Hüne stand einige Schritte von ihr entfernt. Wieder ertönten Rufe, und sie sah Tarran, der von den Dörflern zurückgehalten wurde. Hoch oben in der Luft krächzte Heliwr.
»Du hättest dich ergeben sollen«, rief der Mann. Vielleicht sprach er in normaler Lautstärke. Sie konnte es nicht unterscheiden. Alles wurde laut und wieder leise und umgekehrt.
»Elspeth!«, rief Tarran.
Blinzelnd zwang sie sich, ihren Blick auf ihn zu konzentrieren, während sie sich an seine Stimme klammerte, die sie vom Rand des Abgrunds zurückhalten sollte. Sie packte ihren Stock, der ihr entfallen war und vor ihr lag. Sie zog ihn an sich und ließ ihn über die Steine auf der Straße holpern. Als sie einen fand, der die richtige Höhe hatte, ließ sie den Stock darauf wippen.
»Dummes Ding!« Der Mann lächelte breit, packte seinen Stock an einem Ende und holte damit gegen sie aus. Die Zuschauer kreischten.
»Für Sankt Jude!« Sie sprang auf und trat auf ihren Stock. Das andere Ende schnellte hoch. Sein Triumphschrei ging in ein schmerzliches Stöhnen über, als er ihn zwischen den Beinen traf. Er schwankte, sein Stock entglitt ihm, als er heulend in seinen Schritt fasste. Als sie ihren Stock unter ihm hervorzog, kippte er wie ein ins Meer stürzender Berg um.
Ringsum ertönte Jubel. Als sie sich nach Tarran umdrehte, der sich vordrängte, tat sie einen einzigen Schritt in seine Richtung, ehe Dunkelheit sie erfasste und einhüllte. Ihr letzter Gedanke galt Tarrans Hand, die nach ihr griff und sie festhielt.
21
Auch mit den Decken, die ihn verbargen, gab Llech-lafar kein bequemes Kopfkissen ab. Elspeth zuckte zusammen, als sie die Augen aufschlug. Sie schaute zu dem provisorischen Baldachin hoch, auf den der Regen eine komplizierte Weise trommelte.
Sie versuchte sich aufzusetzen. Ihre Bemühungen waren nur zum Teil von Erfolg gekrönt. Von links ertönte ein Krächzen. Sie sah Heliwr auf seinem Stangensitz. Er beäugte sie mit einem Ausdruck, der Ekel, Mitleid oder Hunger bedeuten konnte.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Tarran, der hinter dem Karren ging.
»Ich lebe noch. Nur knapp, aber immerhin.«
»Hat er dir Vernunft in den Kopf gehämmert?«
»Entweder dies oder er prügelte mir jeden Gedanken, den ich je hatte, heraus.«
»Wie konntest du nur so dumm sein? Er war doppelt so groß wie du.«
»Aber ich schlug ihn.« Sie zog sich am Seitenbord hoch. »Wie lange war ich
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