Die Lady mit der Lanze
jetzt nichts.
Die Entfernung zwischen den zwei Männern entsprach in etwa der Länge ihres Kampfstockes. Das Gleichgewicht zu halten und mit ein paar raschen Schritten die Distanz zu überwinden, ehe sie fallen konnte, würde nicht so klappen wie in ihrer Kindheit.
Unmöglich ist es nicht. Nur weil andere es glauben, heißt das noch lange nicht, dass du es nicht schaffst.
Sie straffte die Schultern, als die Erinnerung an die Stimme ihres Vaters kam. Geduldig wie immer, wenn er ihr einen Trick erklärte, von dem sie hofften, sie würde ihn eines Tages beherrschen. An diese Worte hatte sie lange nicht gedacht. Sie staunte, dass seine Stimme noch in ihrem Bewusstsein nachhallte.
Den Blick auf die obere Begrenzung der Bogentür gegenüber richtend, schob sie erst einen Fuß und dann den anderen die Stange entlang. Sie hörte jemanden scharf einatmen. Tarran? Cors oder seinen Sohn? Einen anderen? Sie wagte keinen Blick.
Sie streckte die Hände aus, als hielte sie ihren Stock. Wenn sie ihn schwang, musste sie wie jetzt ihr Gleichgewicht halten. Sie verlagerte ihr Gewicht, um den linken Fuß wieder vorzuschieben. Die Stange bog sich leicht und vibrierte, als schöpfe auch sie tief Atem. Sie versuchte, diese Bewegung zu ignorieren, als sie ihren rechten Fuß vorschob.
Heftig schwankend kämpfte sie verzweifelt um ihr Gleichgewicht. Als Lord de la Rochelles Männer johlten, konnte sie sich sein lüsternes Grinsen lebhaft vorstellen. Ihr Magen rebellierte vor Abscheu. Nein, sie würde nicht unterliegen. Rasch trat sie vor. Jede Sekunde konnte ihre letzte auf der Stange sein. Fast lief sie auf Cors zu.
Dann hatte sie den Tisch am anderen Ende erreicht, und Stille senkte sich über die Halle.
Neben ihr flüsterte Cor: »Gut gemacht. Von einer Tochter Mercer Braybrookes nicht anders zu erwarten.«
»Danke.« Mehr konnte sie nicht sagen, weil sie vom Tisch gehoben und an eine harte Brust gedrückt wurde.
Tarran! Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und gab sich seiner Stärke hin. Seinen Schutz brauchte sie nicht, doch konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie anderswo lieber gewesen wäre als in seinen starken Armen. Mit geschlossenen Augen sog sie seinen männlichen Moschusduft ein, den es in ihrem Klosterleben nicht gegeben hatte. Er war berauschender als das Ale des Barons.
»Wenn Ihr darauf wartet, dass ich Euch recht gebe und sage, Ihr könntet mit dem Lord allein fertig werden, könnt Ihr lange warten«, murmelte er.
»Ich erwarte überhaupt nicht, dass Ihr etwas sagt.«
»Gut.« Seine Finger streichelten ihr Knie, als er in ihr Haar flüsterte: »Aber ich muss sagen, dass Ihr großartig wart.«
Er stellte sie auf die Beine. Anstatt ihn zu bitten, sie wieder in die Arme zu nehmen, sagte sie zu ihrem Gastgeber: »Nun ist die Reihe an Euch, Mylord.«
»Ich habe meine Zweifel, ob die Stange mich aushält.« Lord de la Rochelle entfernte sich humpelnd. An den Stufen zur Hochtafel trat eine blonde Magd vor, um ihn über die doppelte Niederlage hinwegzutrösten. Er schlang den Arm um sie und flüsterte ihr etwas zu. Sie kicherte.
Tarran stieß den Atem aus, den er angehalten hatte, seit … wann? Seit Elspeth törichterweise ihren Gastgeber herausgefordert hatte? Seit dieser sie seinerseits herausforderte und sie ihren Fuß auf den schmalen Stab setzte? Nein, da hatte er atmen können. Sein Atem hatte ihn erst im Stich gelassen, als er sie nach ihrer erstaunlichen Vorstellung in die Arme nahm.
»Ein Glück, dass ich so rasch vergessen bin«, sagte Elspeth.
Leicht vergessen? Er bezweifelte, ob er jemals ihre blitzenden Augen und lockenden Lippen vergessen würde. Auch bezweifelte er, ob er sie vergessen wollte.
Der Gedanke war für ihn ein größerer Schock als ihre Fähigkeit, auf einer Stange zu gehen. Auch wenn sie mit ihnen bis Tyddewi ging, würde sie binnen weniger Tage aus seinem Leben verschwunden sein. Gewiss würde sie dann auch aus seinem Bewusstsein verschwinden, anders als die Erinnerung an Addfwyns Tod, die ihn nie verlassen würde.
»Zum Glück für Euch«, sagte er anstelle seiner beunruhigenden Gedanken, »ist de la Rochelle noch nüchtern genug, um zu wissen, dass er mehr als ein angeschlagenes Knie riskiert hätte, wenn er Eurem Beispiel gefolgt und über die Stange gegangen wäre. Warum müsst Ihr so töricht handeln, wenn Ihr über so viel Scharfblick und Intelligenz verfügt? Es gab andere Wege, de la Rochelle zu überzeugen, dass Ihr an seinen Angeboten nicht interessiert
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