Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
gefällt mir.« Charlotte betrachtete die dichten, elastischen Locken. So würde ihr Haar vermutlich auch aussehen, vermutete sie, wenn sie es kurz tragen würde. »Macht wahrscheinlich viel weniger Umstände, wenn es kurz ist.«
»Das sagt Mutter auch. Wir haben alle kurze Haare.«
»Alle?«
»Meine Schwestern und Brüder. Ich habe je drei davon.«
»Ich verstehe. Soll ich dir helfen, den Drachen wieder in die Luft steigen zu lassen?«
»Wissen Sie denn, wie man einen Drachen steigen lässt?«
»Nein. Meine Mutter und ich haben es einmal versucht, aber es war nicht windig genug.«
»Heute reicht der Wind absolut aus.«
»Was soll ich tun?«
»Wenn Sie den Drachen halten, während ich die Leine nehme und losrenne …«
Charlotte hatte den Drachen bereits aufgehoben und entfernte ein welkes Blatt, das daran klebte.
Das Mädchen rief über die Schulter zurück: »Erst loslassen, wenn ich's sage!«
Charlotte salutierte. »Aye, aye!«
Das Mädchen lief los, die Schnur spannte sich, die Kleine rief etwas und Charlotte ließ den Drachen los. Ein paar Sekunden lang flog er dicht über dem Boden dahin und geriet dann ins Trudeln, doch gerade, als sie fürchtete, dass er auf die Felsen prallen würde, wurde er vom Wind erfasst und stieg auf. Höher und höher in den Himmel fliegend, war er erst auf gleicher Höhe mit dem Bergrücken, dann stieg er weiter. Er tanzte in den Luftströmungen, stieg immer noch höher und zerrte dabei an seiner Schnur. Der Anblick des fliegenden, hellen kleinen Dings trieb Charlotte ganz plötzlich die Tränen in die Augen.
»Hu-hu, Lizzy, hierher!«
Ein Mann erschien auf dem Bergkamm. Er blickte nach oben und hob die Hand in einer Siegesgeste zum Himmel. Der Vater des Mädchens, vermutete sie.
Einige Augenblicke später kam der Mann den steilen Hügel heruntergesprungen, ein breites Lächeln im Gesicht. Er war jünger, als sie gedacht hatte. Moment, diesen Mann kannte sie doch – es war der große junge Mann aus der Kirche.
»Hallo«, rief er.
Sie wartete, bis er bei ihr war. »Hallo. Ich habe gerade ihre kleine Drachenbesitzerin bewundert.«
»Das ist Lizzy, meine Schwester. Ich bin Thomas Cox.«
»Charlotte Lamb. Ich glaube, ich habe Sie letzten Sonntag in der Kirche gesehen.«
Seine Augen weiteten sich im Wiedererkennen. »Das stimmt. Und hat Ihre Schulter sich von ihrer Funktion als Mrs Beebes Kopfkissen erholt?«, fragte er und lächelte sein jungenhaftes Lächeln.
»Ja, sie hatte tatsächlich ein wenig Erholung nötig.«
»Was mich nicht überrascht. Aber erzählen Sie jetzt bloß nicht herum, ich hätte gesagt, dass Mrs Beebe einen großen Kopf hat, sonst bin ich erledigt. Und werde nie wieder von dem wundervollen Apfelkuchen zu kosten bekommen, den sie bäckt.«
»Thomas, Thomas, guck doch, wie hoch!«, rief Lizzy Cox weiter unten am Strand. Ihr Bruder drehte sich um und sah zu ihr hinüber. Wieder juchzte er und stieß triumphierend die Hand in die Luft.
Charlotte beugte sich vor, um das Rad des Kinderwagens noch einmal genauer zu inspizieren. Sie musste allmählich an den Rückweg denken. Mrs Taylor machte sich wahrscheinlich schon Sorgen.
»Es ist gebrochen, oder?« Mit einem einzigen großen Schritt stand Thomas neben ihr und beugte sich ebenfalls nach unten, die Hände auf den Knien.
»Ich fürchte, ja. Das ist schlimm – er gehört Mr und Mrs Beebe.«
»Keine Sorge. Ich habe Mr Beebe geholfen, die kleine Kutsche zu bauen. Das haben wir gleich.« Er stieg wieder den Hügel hinauf, als sei das überhaupt keine Mühe für seine langen Beine.
Ein paar Minuten später kam Lizzy angerannt. Dabei wickelte sie die Schnur wieder auf die Spule. »Thomas kann alles reparieren«, erklärte sie.
»Ist dein Drachen wieder abgestürzt?«
Sie zuckte die Achseln. »Nein, ich habe ihn eingeholt. Ich habe noch im Garten zu arbeiten.«
»Ist das dein Zuhause dort drüben?«, fragte Charlotte und blickte auf den Hügelkamm hinauf.
»Gute Güte, nein. Das ist Shore Hill House. Thomas arbeitet dort.«
»Ist er der Gärtner?«, fragte Charlotte und beobachtete, wie Thomas über den Kieselstrand zurückkehrte.
Wieder zuckte Lizzy die Achseln. »Gärtner, Kutscher, Böttcher, Wundarzt und Alles-Reparierer.«
»Wundarzt?«
Thomas hatte den letzten Satz ihrer Unterhaltung mitgehört. »Lizzy, du sollst Miss Charlottes Ohren nicht so schamlos belästigen, du weißt doch, dass ich kein Wundarzt bin.« Er machte sich daran, den Kinderwagen zu reparieren.
»Hast du nicht
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