Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
herübersah. Er war gut einen Kopf größer als alle anderen Anwesenden und hatte ein entschlossenes, kantiges Gesicht mit einer langen Nase. Sein hellbraunes Haar war kurz und zerzaust. Kein wirklich gut aussehender, aber ein sehr angenehmer junger Mann, dachte Charlotte. Er blickte von Charlotte zu Mrs Beebe und wieder zurück zu Charlotte und lächelte sie dann mit amüsiertem Mitgefühl an. Es war ein jungenhaftes, freundliches Lächeln, sodass Charlotte unwillkürlich zurücklächelte.
Nach dem Gottesdienst, als sie dem Pfarrer die Hand geschüttelt und die Kirche verlassen hatten, war der junge Riese nur wenige Schritte vor ihnen. Charlotte fragte Mrs Beebe: »Kennen Sie den jungen Mann?«
Mrs Beebe folgte ihrem Blick. »Ich bin nicht überrascht, dass er Ihnen auffiel, Miss Charlotte. Er ragt aus jeder Menge heraus.«
»Ja, das tut er wirklich.«
»Er heißt Thomas Cox. Seine Familie lebt ein Stückchen weiter oben an der Küste. Eine seiner jüngeren Schwestern geht mit unseren Enkelinnen zusammen zur Schule.«
»Sind seine Schwestern auch so groß?«
»Nein. Er ist der Größte aus dem ganzen Wurf. Aber eine freundlichere Seele als er ist nicht so leicht zu finden. Soll ich Sie vorstellen, Miss Charlotte?«
»Oh nein, ich war nur neugierig.« Charlotte wechselte das Thema, damit Mrs Beebe ihr Interesse nicht missverstand. »Was werden Sie und Mr Beebe nun mit dem Rest des Sonntags anfangen?«
»Wir essen bei meiner Tochter und ihrem Mann zu Mittag. Das sind die, die unsere vier Mädchen haben. Mein Sohn in Worthing hat die beiden älteren Jungen. Sie besuchen wir am nächsten Sonntag.«
»Wie schön für Sie, dass Ihre Familie so nah bei Ihnen wohnt.«
»Ja, Miss Charlotte. Und so fest in unseren Herzen.« Die Frau überraschte Charlotte, indem sie ihre Hand ergriff und herzhaft drückte. »Eines Tages haben Sie auch eine solche Familie, meine Liebe!«
Ein paar Tage später lieh sich Charlotte Mr Beebes ganzen Stolz – den Kinderwagen, den er für seine Enkel gebaut hatte. Das Gefährt war sehr viel leichter und einfacher zu handhaben als die großen, schlecht ausbalancierten Vehikel, die sich nur die Reichen leisten konnten. Mr Beebe hatte sich einen für Körperbehinderte entworfenen fahrbaren Stuhl mit Überdachung und Schiebegriff zum Vorbild genommen, den er einmal in Bath gesehen hatte. Charlotte versprach, vorsichtig zu sein, setzte Anne hinein und ging mit ihr hinunter ans Meer. Die großen Räder des Kinderwagens drehten sich auf den vom Wasser glatt geschliffenen Kieseln des Strands sehr viel leichter, als es auf Sand möglich gewesen wäre. Charlotte freute sich an dem frischen Wind und dem rhythmischen Brausen der Wellen. Sie war vielleicht eine Meile gegangen, vorbei an den Dächern mehrerer Häuser auf dem Höhenrücken, als sie am Himmel plötzlich einen Drachen erblickte. Der Anblick hob ihre Stimmung. Das kleine Dinge wirkte wie ein farbiger Edelstein, der vom Wind emporgetragen wurde. Sie ging rascher in der Hoffnung, das Kind zu sehen, das den Drachen steigen ließ.
Bald merkte sie, dass der Besitzer des Drachens nicht am Strand entlanglief, sondern auf dem Bergrücken, wo sie ihn nicht sehen konnte. An einer schmalen Auffahrt, die zum nächstgelegenen Haus hinaufführte, stürzte der Drachen plötzlich neben ihr auf die Erde. Charlotte erschrak so, dass sie mit dem Kinderwagen zu schnell zur Seite hin auswich und dabei einen großen Stein übersah. Sie hörte ein splitterndes Geräusch.
Oh nein …
Als sie sich zwischen dem angeknacksten Wagen und dem abgestürzten Drachen hinhockte, vernahm sie das Geräusch von Füßen, die über die Kiesel auf sie zu liefen.
Sie blickte auf und sah einen Jungen von neun oder zehn Jahren. Er hielt die Fadenspule in der Hand. Seine braunen Locken hüpften beim Rennen auf und ab.
»Ich hab Sie doch nicht getroffen, oder?«, rief der Junge besorgt.
»Nein, nicht wirklich.« Charlotte lächelte. Als das Kind näher kam, erkannte sie, dass es kein Junge war, sondern ein Mädchen mit kurzem Haar, das Hosen trug.
»Als ich Sie auf dem Boden knien sah, dachte ich, es sei was passiert.«
»Ich habe nur gerade das Rad untersucht. Anscheinend hat es sich bei dem Stoß aus seiner … äh … Stange gelöst.«
»Achse.«
»Richtig.«
Das Mädchen spähte unter die Abdeckung des Kinderwagens und betrachtete Anne. »Wie heißt das Baby?«
»Anne. Aber es ist nicht meins. Ich bin nur ihre Amme.«
»Sie ist sehr hübsch.«
»Du auch. Dein Haar
Weitere Kostenlose Bücher