Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
auf einen Spaziergang am Meer. Sie blickte hoffnungsvoll zum Himmel hinauf, doch diesmal flog dort kein Drachen. Froh, dem Cottage und der bedrückenden Atmosphäre, die es fast ständig zu erfüllen schien, entronnen zu sein, genoss sie den Wind, der ihre Haare zerzauste, und die Freiheit. Es tat gut, einmal nicht die prüfenden Augen von Mrs Taylor auf sich gerichtet zu sehen. Ihre Herrin war gewiss nicht bösartig, doch sie nahm es sehr genau mit ihren Anweisungen, Anne betreffend – was sie ihr anziehen sollte, auf welcher Seite des Kopfes sie die Haarschleife tragen sollte und so weiter. Es war ermüdend, ständig auf der Hut sein zu müssen, damit sie keinen Fehler machte. Und es war beunruhigend zu wissen, dass ihr Lebensunterhalt von einer Herrin abhing, die heikel und launisch zugleich war.
»Miss Charlotte!«, rief eine Stimme vom Bergkamm herunter. Es war Lizzy Cox, in den gleichen Hosen wie das letzte Mal. Sie winkte ihr zu. »Kommen Sie, das müssen Sie sehen«, rief sie aufgeregt. »Kommen Sie, schnell!«
Die Aussicht, den Kinderwagen den steilen Hang hinaufzuschieben, gefiel Charlotte überhaupt nicht, deshalb schob sie ihn an den Wegrand, nahm Anne auf den Arm und trug sie hinauf. Lizzy kam ihr entgegen. »Sie kommen gerade rechtzeitig!«
»Wofür?«
»Lämmchen!«
Sie folgte Lizzy um ein schönes Haus herum zu einem Anbau aus Fachwerk. In der Scheune roch es nach Heu und Getreide und Tieren, aber der Geruch war nicht unangenehm. Thomas saß mit gekreuzten Beinen im Stroh in einer Box, neben einem Mutterschaf, das auf der Seite lag und hechelte. Er hielt ein Lämmchen im Arm, ein zweites lag über seinen Beinen. »Das war's. Hallo, Miss Charlotte!«
»Hallo, Thomas!«
»Es ist immer gut, auf alles gefasst zu sein, wenn sie lammen. Schafe tun sich oft schwer damit. Das gute Mädchen hier ist spät dran – schauen Sie, wie groß ihre Lämmer schon sind!« Er hob das Lamm, das er im Arm hielt, hoch, damit sie es betrachten konnte.
»Sie hatte Schwierigkeiten«, erzählte Lizzy, »und hat fürchterlich gebrüllt. Aber Thomas hat ihr geholfen.«
»Der alte Bob ist ein Freund von mir. Er musste in die Stadt, zur Hochzeit seiner Tochter, deshalb habe ich ihm angeboten, ein Auge auf dieses Mutterschaf hier zu haben.«
Er steckte dem Lämmchen einen Strohhalm in die Nüstern, sodass es niesen musste. Dann wischte er ihm mit einem Lappen erst über die Schnauze und rieb danach den ganzen kleinen Körper ab. »Niesen hilft ihnen, besser Luft zu kriegen.«
Er hielt Lizzy das Lämmchen hin und fragte: »Willst du es mal halten?«
»Ja, bitte.«
Sie nahm das Lamm in die Arme und drückte es vorsichtig an sich. »Wie weich es ist.«
»Möchten Sie es auch einmal, Miss Charlotte?«, fragte Thomas. »Ich würde Ihnen Anne ja gern abnehmen, aber meine Hände sind schmutzig.«
»Ich halte sie, Miss Charlotte.« Lizzy gab Thomas das Lämmchen zurück, wischte sich die Hände an der Hose ab und streckte die Arme aus, um Anne entgegenzunehmen. Anne, eine Faust im Mund, öffnete den Mund noch weiter und lächelte um die Faust herum. Ein wenig Speichel lief ihr aus dem Mund, aber Lizzy schien sich nicht zu ekeln. Sie hielt Anne mit geschicktem Griff, als hätte sie schon viele Babys auf dem Arm gehabt. Wahrscheinlich hatte sie das auch.
Thomas gab Charlotte das Lämmchen und sie nahm es auf den Arm.
»Du hast recht, Lizzy. Es ist wirklich unglaublich weich.«
Die Augen der kleinen Anne strahlten auf, als sie das Tierkind sah. Sie brabbelte glücklich etwas vor sich hin und streckte beide Ärmchen nach ihm aus.
»Nein, Püppchen«, sagte Charlotte freundlich. »Das darfst du nicht in den Mund nehmen.«
Sie gab Thomas das Lamm zurück und er stellte es auf den Boden neben seiner Mutter. Mit dem zweiten macht er es genauso. Das Mutterschaf rappelte sich auf und fing an, erst das eine, dann das andere Lamm abzulecken. Die beiden reckten gierig die Hälse und fingen an zu trinken.
»Sie kommen jetzt allein zurecht«, sagte Thomas und stand auf. Charlotte hatte wieder Anne auf dem Arm und alle zusammen traten hinaus in den Sonnenschein. Thomas wusch sich in einem Eimer die Hände und trocknete sie mit einem sauberen Tuch ab.
»Ich muss weg, Bohnen pflücken«, verkündete Lizzy und lief los.
»Möchten Sie den Garten sehen, Miss Charlotte?«, fragte Thomas.
»Sehr gern. Ich liebe Gärten.«
Sie gingen durch die Gartenanlagen, die auf der vom Meer abgewandten Seite des Hauses lagen. Im Gemüsegarten
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