Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
nach ihr. Ich bin ein Mann von zweiundzwanzig, aber manchmal träume ich noch von ihr. In diesen Träumen kann ich ihr Gesicht nicht sehen, aber ich spüre, wie sie ihre Arme um mich legt.«
Charlotte nickte und biss sich auf die Lippen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Thomas sah sie ernst und forschend an. Er sagte nichts, sondern wartete einfach.
Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Schließlich sagte sie mit zitternder Stimme: »Mein Sohn … wird von einer anderen Frau aufgezogen.«
Langsam nickte er. »Edmund?«, fragte er ruhig.
Sie nickte und beide schwiegen.
Als Charlotte den Salon betrat, erhob sich Mrs Taylor vom Sofa. »Sie sind lange fort gewesen, Miss Lamb. Ich dachte schon, wir würden Sie – oder meine Tochter – nie mehr wiedersehen.«
Sie lächelte zwar, als sie es sagte, doch ihr Gesicht zeigte eine verständliche Mischung aus Erleichterung und Missbilligung.
»Bitte, verzeihen Sie mir, Madame. Ich habe Anne auf einen Spaziergang mitgenommen und die Zeit aus den Augen verloren.«
Erst jetzt bemerkte Charlotte die ältere Frau, die Mrs Taylor gegenüber saß, halb verdeckt hinter der Lehne des großen Armstuhls. Die Dame schien in den Fünfzigern zu sein. Unter dem eleganten schwarzen Hut war eine Haube aus schönem silbergrauem Haar zu sehen.
»Mrs Dillard wartet jetzt seit fast einer Stunde, sie wollte gerne Annette sehen.«
»Entschuldigung, ich wusste nicht, dass Sie Gäste erwarten.« Charlotte reichte das Kind seiner Mutter.
»Hier ist sie, Mrs Dillard. Ist sie nicht schön?«
Die ältere Frau erhob sich und Charlotte sah, dass ihre Kleidung zwar praktisch war, aber fraglos aus den Händen einer ausgezeichneten Schneiderin kam. Mrs Dillard schritt mit würdevoller Ruhe über den Teppich. »Sehr hübsch, wirklich.« Sie tätschelte Annes Köpfchen mit juwelengeschmückten Händen. »Sie sieht Ihnen sehr ähnlich.«
»Danke. Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz, Mrs Dillard. Ich werde noch etwas Tee bringen lassen.«
Doch die Frau blieb stehen. »Jetzt, da ich Ihre entzückende Tochter gesehen habe, muss ich wirklich gehen. Das Treffen des Wohltätigkeitsvereins beginnt …«, sie hob die Uhr hoch, die sie an einer Kette am Gürtel trug, »du liebe Güte, vor einer halben Stunde!«
»Es tut mir so leid, dass Sie meinetwegen warten mussten, Mrs Dillard!«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich weiß, wie schwer es ist, eine verlässliche Amme zu finden.« Die Frau sprach, als sei Charlotte nicht anwesend. »Meine Tochter hat in den letzten vier Monaten schon zwei gehabt. Die erste hat laufend die Speisekammer geplündert.« Sie zog ihre Handschuhe an. »Danke für die Einladung, Mrs Taylor. Ich hoffe sehr, dass Sie Ihren Aufenthalt hier genießen.«
Mrs Taylors Lächeln wirkte gezwungen. »Sie sind sehr freundlich. Ich danke Ihnen.«
Die Frau verabschiedete sich. Charlotte hielt den Atem an, sie war auf das Schlimmste gefasst.
Die Tür schloss sich, aber Lizette Taylor schaute noch immer der Besucherin nach. »Es wird keine Gegeneinladung geben, das kann ich Ihnen versichern.«
»Ich bedaure es zutiefst, Madame.«
»Ja – Sie waren mir nicht gerade eine Hilfe dabei, die Lady zu beeindrucken.« Mrs Taylor ließ sich schwer aufs Sofa fallen, wobei sie Anne anstieß, und machte eine fatalistische Handbewegung. »Aber sie wären sowieso nicht beeindruckt gewesen. Die beiden anderen Damen haben sich schon verabschiedet, noch bevor der Tee serviert wurde. Ihnen fiel plötzlich eine Kirchenversammlung ein, an der sie ›unbedingt teilnehmen müssen‹. Ich bin überrascht, dass Mrs Dillard überhaupt so lange blieb.«
Noch bevor Charlotte etwas Tröstendes äußern konnte, fuhr Mrs Taylor fort: »Als sie meine schriftlichen Einladungen erhielten, haben sie sich fast überschlagen. Und wie sie lächelten, als sie hereinkamen – ich glaube, sie waren überrascht, eine Arztfrau zu sehen, die so gut gekleidet ist. Doch dann sagte ich etwas und ihr Lächeln war wie weggeblasen. Als sie merkten, dass ich Französin bin, hatten sie es plötzlich überaus eilig, wieder zu gehen.«
»Vielleicht hatten sie ja wirklich Verpflichtungen.«
Wieder die abschätzige Handbewegung.
»Mrs Taylor, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Ich habe mir nie klargemacht, wie es für Sie sein muss …«
Lizette Taylor hob die Hand und brachte Charlotte mitten im Satz zum Schweigen. »Ich mag eine Französin sein, die fern von ihrer Heimat und ihrer Familie lebt, aber
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