Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
Szene nicht ohne Ironie war: Sie, die in einem Zuhause aufgewachsen war, in dem Alkohol grundsätzlich verpönt war, hätte den Geruch höchstwahrscheinlich gar nicht identifizieren können, erst das Mittel, das er dagegen nahm, verriet ihn. Er strich glättend über seinen Schnurrbart, bevor er aufstand. Es war nicht die Geste eines Dandys, dachte sie. Auf sie wirkte er vielmehr wie ein übermüdeter Mann, der mühsam versuchte, seine berufliche Fassade aufrechtzuerhalten. Seine nächsten Worte zerstörten dieses Bild allerdings, noch bevor es richtig Gestalt gewonnen hatte.
»Ziehen Sie bitte Ihr Kleid aus.«
Ihr blieb der Mund offen stehen. »Wie bitte?«
»Ihr Kleid. Legen Sie es ab. Los, los. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Aber ist das denn wirklich nötig?«
»Es besteht kein Grund, vor mir die Sittsame zu spielen, Miss Smith.«
»Ich spiele nicht …«
»Ich bin Arzt, Miss Smith. Ich versichere Ihnen, der weibliche Körper hält keinerlei Geheimnisse mehr für mich bereit.«
Dass er keine Geheimnisse mehr bot, glaubte sie gern, und doch!
«Vielleicht habe ich mir die Schmerzen ja auch nur eingebildet. Jedenfalls fühle ich mich jetzt wieder völlig wohl.«
»Geben Sie sich nur ja keinen Illusionen hin, Miss Smith. Ich versichere Ihnen, ein weiblicher Körper in diesem aufgedunsenen Zustand wirkt nicht verführerisch auf einen Mann, sondern eher abstoßend.«
Jetzt empfand sie zusätzlich zu ihrer Verlegenheit und ihrem Ärger noch eine tiefe Scham. Glaubte er tatsächlich, sie denke, er könnte an ihr als Frau interessiert sein?
Er fuhr fort: »Ich habe eine bildschöne Gemahlin zu Hause mit blonden Locken und fünfundvierzig Zentimetern Taillenumfang.« Er legte eine kurze Pause ein. »Allerdings besitzt sie auch eine Zunge, deren Schärfe König Arturs Schwert Konkurrenz macht.«
»Das findet man häufig zusammen«, murmelte Charlotte und dachte an Beatrice. Sie hielt den Blick gesenkt, spürte aber, dass er sie prüfend musterte.
»Kenne ich Sie, Miss Smith?«
»Das glaube ich kaum.«
»Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Woher stammen Sie?«
»Ich …« Was hatte sie Mrs Moorling gesagt? Ihr fiel ein, dass er ihre Akte lesen konnte. »Ich stamme aus Hertfordshire.«
»Hertfordshire? Hmm … und wir sind uns ganz sicher noch nie begegnet?«
»Ich glaube nicht, nein.«
»Na gut, es wird mir wieder einfallen. Also, wollen Sie jetzt wissen, ob es Ihrem Kind gut geht, oder nicht?«
Sie schloss die Augen und schluckte. »Doch, natürlich.« Sie griff mit beiden Händen nach hinten und begann, die Knöpfe zu öffnen. Ausgerechnet heute trug sie ein Kleid, das im Rücken geknöpft war.
»Los, los.« Er trat hinter sie und begann ungeduldig, sich an ihren Knöpfen zu schaffen zu machen. »Wenn das so weitergeht, verpasse ich noch die Jagd.«
In diesem Augenblick sprang die Tür auf und Dr. Taylor kam eilig herein. Er blieb unvermittelt stehen, sichtlich überrascht, den Raum besetzt vorzufinden. Sein bebrillter Blick wanderte von Preston zu Charlotte und wieder zurück. Er runzelte die Stirn.
»Was ist denn hier los?«
»Das sollte ich wohl eher Sie fragen, Sie sind schließlich hier hereingeplatzt!«
»Mrs Moorling hat mich geschickt. Sie meinte, Sie seien nicht da.«
»Nun, da hat sie sich geirrt. Wie Sie sehen, bin ich hier und habe eine Patientin.«
Dr. Taylor öffnete den Mund, doch dann schien er sich noch einmal zu überlegen, was er sagen wollte. Er stellte beiläufig seine Tasche auf den Schreibtisch und sagte leichthin: »Ich dachte, Sie wollten heute auf die Jagd.«
»Heute Nachmittag geht's los.«
»Dann sollten Sie lieber zusehen, dass Sie fortkommen. Nehmen Sie sich doch einfach den Tag frei.«
»Aber ich habe noch Patientinnen.«
»Die kann ich übernehmen. Mein Tag ist sowieso schon verdorben. Es wäre doch sinnlos, dass wir beide einen so schönen Tag hier drin vergeuden.«
»Nun, ich …«
»Fort mit Ihnen! Ich werde mich um Miss Smith kümmern. Ich habe sie ohnehin auch bei ihrer Ankunft untersucht.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Also ab mit Ihnen, bevor ich es mir anders überlege.«
»Na gut – bevor ich es mir anders überlege.«
Dr. Preston nahm seine Tasche vom Tisch, griff nach seinem Mantel, der über der Stuhllehne hing, und eilte aus dem Zimmer, ohne Charlotte auch nur noch einen einzigen Blick zu schenken. Die laut zugeschlagene Tür unterstrich noch die Spannung im Raum, die sich nicht so schnell verflüchtige wie der Knall. Charlotte
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