Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
gute Menschen zu sein, und ganz viel beten, wird es Mutter wieder besser gehen. Glauben Sie, das stimmt?«
»Das ist mit Sicherheit nicht fair.«
»Fair?«
»Dass Ihr Vater Ihnen eine solche Verantwortung auflädt. Verzeihen Sie, ich möchte nicht respektlos sein, aber glauben Sie wirklich, dass Gott so ist? Dass er uns die, die wir lieben, bewahrt, wenn wir die Dinge tun, die wir tun sollten, aber Unglück über uns und über die bringt, die wir lieben, wenn wir unsere Pflichten vernachlässigen?«
»Ich habe das Gefühl, dass Sie vielleicht öfter im Alten Testament lesen sollten.«
»Vielleicht haben Sie recht. Ich ziehe jedoch das Neue vor.«
»Bis auf die Sprüche und die verzweifelten Psalmen?«
Er lächelte. »Und jenes andere Buch, das hier nicht mehr genannt werden soll.«
Plötzlich wurde Daniel bewusst, dass die Gemeinde stand. Rasch erhob er sich ebenfalls, froh, von der harten Bank aufstehen zu können. Er spürte, wie er in der Erinnerung lächelte – ein etwas unangebrachtes Lächeln angesichts der ernsten Segensworte, die der Pfarrer gerade sprach.
In dieser Nacht träumte Charlotte, dass Dr. Webb wieder einmal dem Herzschlag ihrer Mutter lauschte. Wie in ihrer Erinnerung fragte er sie auch diesmal, ob sie ebenfalls horchen wolle. Charlotte kletterte aufs Bett, erwiderte das ruhige Lächeln ihrer Mutter und legte den Kopf an ihre Brust. Doch das Lächeln ihrer Mutter erstarb vor ihren Augen. Charlotte mochte sich anstrengen, so sehr sie wollte, sie konnte den Herzschlag nicht hören.
»Hörst du ihn etwa nicht?«, fragte Dr. Webb streng.
»Nein«, weinte Charlotte, »ich kann nicht.«
Es war ganz allein ihre Schuld. Wenn sie nur ihren Kopf richtig hinlegen würde, wenn sie die richtige Stelle finden würde, wenn sie es nur hören könnte … aber sie konnte nicht, und deshalb schlug es nicht mehr.
Charlotte wachte mit klopfendem Herzen auf, erfüllt von einer grauenhaften Angst vor den Bildern in ihrem Kopf und dem Schuldgefühl, das sich wie eine schwere Decke über sie gelegt hatte und sie zu ersticken drohte. Die Bilder verschwanden bald wieder, doch das vertraute, schreckliche Schuldgefühl blieb, ja, es breitete sich aus, begleitet von einem harten Druck in ihrem Leib – einem Druck, der sich allmählich in Schmerz verwandelte.
Charlotte stand vorsichtig auf und zog ihr Nachthemd aus, weil sie sich ankleiden wollte. Dabei sah sie den kleinen, dunkelroten Fleck.
Mit zitternden Beinen ging sie zum Frühstück. Sie brachte kaum etwas hinunter. Bald darauf saß sie wieder mit den anderen Frauen am Tisch und versuchte, die Decke, die sie für ihr Kind stickte, fertigzustellen. Doch es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Eine zweite Schmerzwelle überspülte sie.
Auf Drängen der anderen Frauen ging Charlotte schließlich mit kurzen vorsichtigen Schritten zum Büro von Mrs Moorling. Als sie der Vorsteherin von den Schmerzen und der kleinen Blutung, die sie so maßlos erschreckt hatte, erzählte, machte Mrs Moorling sich sofort auf die Suche nach einem Arzt.
Charlotte hatte vielleicht eine Viertelstunde im Büro gewartet. Dabei war sie unablässig auf dem harten Stuhl hin- und hergerutscht in dem Versuch, eine halbwegs bequeme Position zu finden. Sie rieb sich den Leib in der Hoffnung, auf diese Weise die Spannung, den unheimlichen Schmerz zu lindern.
Gibbs erschien in der Tür. »Dr. Preston ist gerade gekommen. Er will Sie gleich sehen.«
»Dr. Preston? Vielleicht sollte ich lieber noch warten … mal sehen, wie es mir morgen geht.«
»Miss Smith. Wenn Sie Blutungen haben, dürfen Sie keine Zeit verlieren.«
»Ist es so ernst?«
Die Frau zuckte die Achseln. »Möglicherweise.«
Charlotte fühlte sich unbeschreiblich elend. »Na gut.«
Gibbs führte sie den Gang hinunter und durch den Arbeitsraum in das Untersuchungszimmer. Sie öffnete die Tür und verkündete mit völlig ausdrucksloser Stimme: »Miss Smith.« Dann trat sie beiseite, ließ Charlotte ein und schloss die Tür hinter ihr. Charlotte sah, wie Dr. Preston, der zusammengesunken in seinem Schreibtischstuhl gesessen hatte, sich aufrappelte. Er war unleugbar ein äußerst gut aussehender Mann. Seine Kleidung war allerdings arg zerknittert und sein Haar zerzaust, obwohl es schon mitten am Vormittag war. Hatte er etwa in seinen Kleidern geschlafen? Sie sah, wie er den Deckel einer Smith & Co.-Dose aufschnappen ließ und sich ein extra starkes Pfefferminzbonbon in den Mund schob. Charlotte fand, dass die kleine
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