Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
die Schuld daran. Er wusste, dass das Problem in seiner eigenen Seele lag.
Während er dasaß, seinen Vater aufmerksam lauschend neben sich, den Druck der harten, hölzernen Bank im Kreuz, versetzte der tiefe Bariton des Predigers ihn in eine andere Kirche in einer anderen Zeit zurück.
Wie lange war das nun her? Vielleicht fünf Jahre. Er war gerade von einem Besuch bei Mrs Lamb gekommen. Dr. Webb, der rechtzeitig zum Tee wieder zu Hause sein wollte, war in Eile, redete Daniel jedoch zu, ruhig zurückzubleiben und sich ein wenig Zeit für sich zu nehmen. Zweifellos spürte er, wie niedergeschlagen Daniel war. Am Morgen waren sie von einem Jungen mit verweinten Augen in eine trostlose Strohhütte gerufen worden, nur um festzustellen, dass die Großmutter des Jungen bereits tot war, und heute Nachmittag nun der deprimierende Besuch bei Mrs Lamb. Daniel war dem Älteren zutiefst dankbar; er empfand tatsächlich das dringende Bedürfnis, allein zu sein.
Auf dem Weg vom Pfarrhaus kam Daniel an der Kirche vorüber. Einem Impuls folgend betrat er den leeren, hallenden Kirchenraum. Das Alter des Baus erstaunte ihn – einige Abschnitte stammten noch aus dem zwölften Jahrhundert. Er wurde es niemals müde, den einzigartigen Schmuck des ansonsten so schlichten Gebäudes zu bewundern – den Altarbogen, die Säulen, die hohen Fenster und die in rötlichem Ocker skizzierten Fresken von Heinrich VIII. und dem heiligen Franziskus. Letzten Sonntag hatte er hier am Gottesdienst teilgenommen und einen Augenblick lang meinte er, Mr Lambs dröhnenden Bariton zu hören, der zwischen den steinernen Wänden widerhallte, als er von der erhöhten Kanzel aus seine Predigt hielt. Aber nein, der Ort war völlig still, bis auf ein Rascheln, das durch das Umblättern einer Buchseite verursacht wurde. Er wandte den Kopf und da, in einer Bank ganz hinten im Kirchenschiff, auf einem Fleckchen, das sie offenbar bewusst wegen des breiten Streifens Sonnenlichts gewählt hatte, der darauf fiel, sah er Charlotte Lamb.
»Miss Lamb.«
»Hallo, Mr Taylor. Wie geht es meiner Mutter?«
»Sie ist ein wenig schwächer als sonst, fürchte ich. Aber sie scheint guter Dinge zu sein.«
»Das ist Mutter immer. Ich wünschte nur, ihre Gesundheit wäre ebenso gut.«
Er wusste, dass es nicht seine Aufgabe war, ihr an dieser Stelle Dr. Webbs Prognose zu erläutern, und wechselte das Thema, indem er auf den schwarzen Folianten deutete, den das junge Mädchen an die Brust gepresst hielt. »Darf ich fragen, was Sie so aufmerksam lesen?«
»Nun, die Bibel, das sehen Sie doch.«
»Und lesen Sie gern in der Bibel?«
»Ja, natürlich. Sie etwa nicht?«
»Ich fürchte, ich finde manche Teile ziemlich verstaubt, aber andere mag ich sehr.«
»Welche Teile?«
»Oh, ich mag die Evangelien, die Sprüche, manche von den Psalmen Davids – vor allem die verzweifelten. Und natürlich, aber das ist geheim …«
»Geheim?«
Er spürte, wie sein Gesicht heiß wurde, und wusste, dass er errötete. »Ich meinte das Hohelied Salomos, aber das dürfte ich vor Ihnen eigentlich nicht sagen.«
»Sie haben es aber schon gesagt.«
»Verzeihen Sie mir.«
Sie wandte sich um und betrachtete die Südkapelle, dann sah sie wieder ihn an und flüsterte: »Sie haben mir ein Geheimnis gesagt, jetzt verrate ich Ihnen auch eins. Soll ich Ihnen zeigen, was ich wirklich lese?« Sie zog mehrere zusammengefaltete Seiten heraus, die in der Bibel versteckt waren. »Ich sollte eigentlich das Buch Numeri lesen, aber stattdessen lese ich diesen Brief immer wieder durch.«
»Es muss ein sehr interessanter Brief sein.«
»Auf jeden Fall interessanter als Numeri.«
»Ist es … ein Liebesbrief?«
»Ein Liebesbrief?« Sie senkte den Blick. »Nein. Ganz und gar nicht.«
»Aber Sie … bekommen doch … manchmal Liebesbriefe?«
»Nein. Noch nie.«
»Das bedaure ich.«
»Warum denn? Ich bin schließlich erst fünfzehn.«
»Ganz recht. Dergleichen sollte warten, bis Sie mindestens …«
»Sechzehn sind.«
»Einverstanden.«
»Dies hier ist nur ein Brief von meiner lieben Tante. Ich soll den August bei ihr verbringen und ich freue mich schon so sehr darauf. Sie schreibt, was wir tun werden und wen wir wahrscheinlich sehen werden … ich lese ihn immer wieder und die ganze Zeit tue ich so, als gehorchte ich meinem Vater und läse dies . Halten Sie mich deshalb für sehr schlecht?«
»Niemals, Miss Lamb.«
»Vater würde mich für schlecht halten. Er sagt, wenn wir uns alle bemühen, richtig
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