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Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)

Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)

Titel: Die Lady von Milkweed Manor (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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beobachtete Charlotte. Nach einem anstrengenden Tag und einem noch schlimmeren Abend hatte er nicht schlafen können und war ruhelos durch die Gänge des Hauses gewandert. Als er an der stillen Pflegestation vorbeikam, war er überrascht gewesen, sie um diese Stunde hier zu sehen. Da er sich nur hastig etwas übergeworfen hatte und zudem dringend ein Bad und eine Rasur benötigte, ging er nicht zu ihr hinein. Er hatte im Laufe der Jahre viele Frauen gesehen, die ein Kind fütterten oder stillten, von jungen Mädchen bis hin zu alten Nonnen – warum nur war er so seltsam fasziniert von dem Anblick von Charlotte Lamb, die ein Findelkind fütterte?

8
    Die Seidenblume galt als Unkraut, schwer auszumerzen und eine Gefahr
für den übrigen Pflanzenbestand. Aber viele Leute hatten schon bald
irgendwo ein Fleckchen mit Seidenblumen eingesät … Die Franzosen
importierten sie im 19. Jahrhundert sogar in ihre Gärten.
    Jack Sanders, The Secrets of Wildflowers
    Daniel Taylor half seinem Vater in den Sonntagsmantel. Danach bürstete er den Mantel sorgfältig ab und strich dann Schultern und Ärmel glatt. Dabei ließ er seine Hände einen Augenblick auf den Oberarmen seines Vaters ruhen. Wann war er so mager geworden? Er fühlte das Zittern, das durch den Körper des älteren Mannes lief, und biss sich auf die Lippen. Heute war kein Tag für Vorhaltungen.
    »Komm jetzt, Vater. Noch ein bisschen waschen und dann gehen wir.«
    John Taylor war fünfundfünfzig Jahre alt, wirkte aber weit älter, als er jetzt zum Waschbecken humpelte und sich darüberbeugte, um sich Gesicht und Hände zu waschen.
    »Spül dir auch den Mund aus.«
    Sein Vater hielt kurz im Waschen inne, und tat dann, wie ihm geheißen worden war. Als er fertig war, sagte er leise: »Vielleicht sollte ich heute lieber zu Hause bleiben.«
    »Aber nein, Vater. Du weißt, dass der Gottesdienst dir immer guttut.«
    »Ich weiß nicht, ob ich mich heute dazu imstande fühle.«
    Daniel seufzte leise. Die Versuchung, tatsächlich allein zu gehen, war groß. Er wusste ganz genau, dass die Gesellschaft seines Vaters ihm eher schadete als dabei half, eine gut gehende Praxis aufzubauen – zumindest bei den zahlungskräftigeren potenziellen Patienten. Gleichzeitig verursachte dieser Gedanke ihm sofort Schuldgefühle. Er betrachtete seinen Vater, der jetzt auf der Bettkante saß, und wurde von einer Flut von Empfindungen überschwemmt, die zu kompliziert waren, um sie auseinanderzusortieren: leichter Ekel, Mitleid, Zorn, der Drang, ihn zu beschützen, und Liebe.
    »Gehen wir«, sagte Daniel leise, trat zu seinem Vater, hob sanft sein Kinn an und schaute ihm in das alternde Gesicht. Seine Augen waren müde, aber nicht blutunterlaufen. Er legte die Handfläche auf die von Falten durchzogene Stirn seines Vaters: warm, aber nicht fiebrig. Von seinem erhöhten Standpunkt aus sah er, dass das Haar seines Vaters sich zu lichten begann und ein paar widerspenstige weiße Büschel vom Kopf abstanden. Vorsichtig glättete er das Haar, so methodisch, als führe er eine wichtige ärztliche Maßnahme durch.
    »So. Ein Bild der Gesundheit und Vornehmheit.«
    John Taylor lächelte schwach. »Wenn es nur so wäre, mein Junge.«
    »Komm jetzt, Vater, wir wollen doch nicht zu spät kommen.«

    Daniel und sein Vater saßen auf der hochlehnigen Bank eines Kirchenstuhls fast genau in der Mitte des Kirchenschiffs. Diesen Logenplatz verdankten sie der Großzügigkeit von Mrs Wilkins, einer Witwe, die mit dieser noblen Geste ursprünglich die Absicht verband, ihre erwachsene Tochter mit einem viel versprechenden jungen Arzt in heiratsfähigem Alter bekannt zu machen. Die Dame war jedoch zu höflich, um ihr Angebot zurückzuziehen, als sie hörte, dass Daniel bereits verheiratet war. Es war ein naheliegendes Missverständnis gewesen angesichts der Tatsache, dass keiner der Gottesdienstbesucher Dr. Taylors Gattin jemals zu Gesicht bekommen hatte.
    Als der Mann im Talar mit seiner Predigt begann, wandte sich Daniels Aufmerksamkeit, wie es ihm bei dieser Gelegenheit häufig geschah, anderen Dingen zu. Wenn man ihn gefragt hätte, hätte er ohne Weiteres zugegeben, dass er den Gottesdienst nur besuchte, weil dies von achtbaren Leuten – zumal von einem angesehenen Arzt – erwartet wurde. Seinem Geist konnten die salbungsvollen Worte des Predigers, die ewig gleichen Kirchenlieder nur wenig Nahrung bieten – geschweige denn, ihn von irgendeiner Wahrheit überzeugen. Doch er gab nicht der Kirche von England

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