Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
war nicht so einfältig, jetzt noch auf einen Liebesbrief zu hoffen. So war es also – noch schlimmer, als sie gedacht hatte.
Mit fatalistischer Gleichgültigkeit stand sie auf und griff nach dem zusammengefalteten Zettel. Sie kletterte zurück ins Bett und rollte sich unter der Daunendecke zusammen, auf der Suche nach Schutz vor der kalten Realität, die sie, wie sie wusste, erwartete. Dann entfaltete sie den Brief und las die einzige Zeile, aus der er bestand:
Bitte vergib mir, irgendwie, irgendwann.
Der Brief enthielt keinen Gruß und keine Unterschrift. Doch wenigstens schien er auch keinen Vorwurf zu enthalten.
Kaum vierzehn Tage später erlebte Charlotte Entsetzen, Schock und tiefste Verzweiflung bei der Ankunft eines ganz anderen Briefes. Ihr Vater las ihn beim Frühstück laut vor.
»Ein Brief von eurer Cousine Katherine.«
»Was schreibt sie, Vater?«, fragte Bea und spießte ein Würstchen auf. »Lies vor. Sie ist immer so amüsant.«
Vaters Gesicht wirkte alles andere als amüsiert, während er den Brief überflog. »Ich fürchte, du wirst nicht erfreut sein, meine Liebe.«
»Was schreibt sie denn?«
»Sie wird heiraten.«
»Heiraten? Du scherzt! Katherine hat sich fest vorgenommen, eine alte Jungfer zu werden.«
»Nun, sie hat ihre Ansicht geändert.«
»Und wer ist der strahlende Held, der sie eines Besseren belehrt hat?«
Er antwortete nicht gleich.
»Kennen wir ihn?«, fragte Bea. Das Würstchen war vergessen.
»Ja. Wir kennen ihn sehr gut. Oder zumindest dachten wir, dass wir ihn kennen.«
Charlotte presste unter dem Tisch die Hände fest aneinander. Bea sah mit einem Mal besorgt aus.
»Nicht Bentley«, flüsterte sie. »Er ist zu jung.«
»Nein, nicht Bentley. Es ist Charles Harris selbst.«
Beas Gesicht, das sich gerade noch aufgehellt hatte, erbleichte. Ihr fiel die Kinnlade herunter, der Mund stand offen.
Charlotte versuchte bei aller Fassungslosigkeit ein gleichgültiges Gesicht zu zeigen. Sie sah ihre Gefühle im Antlitz ihrer Schwester gespiegelt. Ihre eigene Verzweiflung und Demütigung mussten unendlich größer sein als die von Bea, aber sie zwang sich mit aller Macht, es nicht zu zeigen.
»Aber …«, protestierte Bea schwach, »man hat gar nicht das Aufgebot in der Kirche verlesen.«
»Sie haben zweifellos um eine Sondererlaubnis eingeholt. Deine Cousine hat noch nie viel von öffentlichen Schaustellungen gehalten.«
»Ich kann es einfach nicht glauben.«
»Ich habe diese Sonderlizenzen noch nie gutgeheißen«, hob ihr Vater an. »Ein Aufgebot ist nicht nur Tradition, es dient auch einem ganz bestimmten Zweck: Es ermöglicht es jemandem, der bereits ein Heiratsversprechen erhalten hat oder einen anderen Einwand gegen die Verbindung vorbringen kann, zu sprechen oder für immer zu schweigen.« Er seufzte. »Heutzutage reicht es, dem Bischof ein paar Pfund zu geben, und das Aufgebot spielt keine Rolle mehr.«
»Aber es ist nicht richtig!« Die Worte brachen gegen ihren Willen aus Charlotte heraus und überraschten sie alle.
»Warum denn nicht?« Bea starrte sie an. »Wärst du vielleicht in der Kirche aufgestanden und hättest etwas gesagt, wenn du die Möglichkeit gehabt hättest? Hast du einen Grund, dagegen zu sein, dass Mr Harris deine Cousine heiratet?«
In Charlottes Kehle stieg bittere Galle auf. Sie erhob sich und stand zitternd da. »Entschuldigt mich«, murmelte sie, legte die Hand über den Mund und verließ rasch den Raum.
Bea rief hinter ihr her: »Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass er dich heiraten würde, oder?«
Charlotte riss die Tür zu ihrem Zimmer auf und schaffte es gerade noch zum Nachttopf, bevor sie sich übergab.
Ein paar Stunden später, Charlotte war im Garten, kam der Mann, den sie mit aller Macht aus ihren Gedanken zu verbannen versuchte, in rasendem Tempo herangeritten. Sie drehte sich um und lief blindlings weg.
»Charlotte, warte!« Charles Harris sprang vom Pferd, machte sich nicht erst die Mühe, es anzubinden, und rannte hinter ihr her. Charlotte lief durch das Gartentor und über den Rasen zum Kirchhof, wo sie hoffte, sich verstecken zu können. Sie dachte dabei nicht nach, ihr Instinkt riet ihr ganz einfach, vor diesem Mann zu fliehen. Ihm nahe zu sein hieß, eine weitere tödliche Kränkung zu riskieren.
Sie wollte gerade durch die Kirchentür schlüpfen, als er sie an der Schulter packte und herumriss.
»Lass mich los«, befahl sie.
Er keuchte noch vom schnellen Lauf, sein Gesicht war verzerrt, sein Haar
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