Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
wie konnte das sein? Sie glaubte nicht, dass es Dr. Taylor war. Und es gab kaum andere Männer an diesem Ort.
Sie blickte auf ihren kleinen Sohn hinunter, der neben ihr schlief. Ein Federkissen sorgte dafür, dass er nicht wegrutschte. Sie hatte ihn zum letzten Stillen aus seinem Bettchen genommen, das am Fußende ihres Bettes stand, und danach waren sie zusammen eingeschlafen. Sie war gerade noch einmal lange genug aufgewacht, um das Kissen auf seine andere Seite zu legen, damit er nicht herausfallen konnte. Jetzt schlief er still und friedlich und ließ sich auch durch das Geräusch draußen nicht stören. Sie strich ihm leicht über den Kopf. Sie hatte das Bedürfnis, ihn zu berühren, wollte ihn aber nicht aufwecken.
Als der Laut sich nicht wiederholte, lehnte sie sich zurück gegen das Kissen. Woran hatte das Stöhnen sie erinnert?
Und dann fiel es ihr wieder ein. Die Erinnerung, die sie stets energisch verdrängt hatte, kehrte nun mit aller Macht zurück. Da lag sie, schaute auf das Profil ihres neugeborenen Kindes hinunter, das sich im Mondlicht deutlich abzeichnete, und überließ sich der Erinnerung.
Auch in jener Nacht war Charlotte von einem ungewohnten Geräusch erwacht. Irgendjemand hatte vor Schmerz aufgestöhnt, da war sie ganz sicher, und sie hatte die vertraute Stimme auch rasch identifiziert. Mr Harris . Ein Lichtstrahl fiel in ihr Schlafzimmer und einen Augenblick zögerte sie. Vielleicht hatte sie es sich ja nur eingebildet oder es war nur der Wind gewesen. Es war sicher vernünftiger, im Bett zu bleiben. In Sicherheit. Aber sie konnte nicht wieder einschlafen. Vielleicht war Mr Harris ja krank?
Er war vor zwei Wochen ins Pfarrhaus gekommen, um nach dem Brand im Herrenhaus Fawnwell am Weihnachtsabend eine Weile hier zu wohnen.
Was war das für eine schreckliche Nacht gewesen! Die Feuerwehr war da gewesen und aus ganz Doddington waren die Leute herbeigeströmt, um zu helfen. Charlotte selbst war ebenfalls hinübergelaufen und hatte sich nützlich gemacht, indem sie Tee an Freiwillige austeilte. Doch sie konnten nichts tun, um dem Feuer Einhalt zu gebieten, das mit rot züngelnden Fingern am Südflügel zerrte. In wenigen Stunden war das Gebäude zu einem rauchenden schwarzen Schutthaufen heruntergebrannt, nur das Gebälk stand noch. Immerhin hatte man verhindern können, dass das Feuer sich noch weiter nach Norden ausbreitete.
Charlotte lag mit offenen Augen im Bett, als sie Mr Harris erneut stöhnen hörte. Rasch stand sie auf, warf den weißen Morgenmantel über ihr Nachthemd, öffnete leise die Tür und trat hinaus. Die oberen Räume waren um eine quadratische Galerie herum angeordnet, von der aus man ins Untergeschoss schauen konnte. Sie trat an das Geländer. Ein schwacher Lichtschein drang herauf und bewog sie, nach unten zu gehen.
Sie fand ihn zusammengesunken in einem Sessel vor dem glimmenden Kaminfeuer im Wohnzimmer. Er starrte auf ein Dokument in seiner Hand.
»Mr Harris?«, flüsterte sie.
In diesem Augenblick erschütterte ein lauter Donnerschlag das Pfarrhaus, doch er hörte es nicht. Er zerknüllte das Papier in seiner Hand, stellte das Glas, das er in der anderen Hand gehalten hatte, ab und schlug die Hände vor das Gesicht.
»Mr Harris!« Sie flog an seine Seite, kniete vor seinem Stuhl nieder, griff nach dem umgekippten Glas und stellte es aufrecht hin.
Dann legte sie ihm vorsichtig die Hände auf die Knie in dem Versuch, sich bemerkbar zu machen. »Sind Sie krank?«
Er sah sie erstaunt an. »Charlotte? Habe ich Sie geweckt? Verzeihen Sie mir.«
»Es gibt nichts zu verzeihen. Ist etwas passiert? Mr Harris, Sie sehen wirklich krank aus. Soll ich Buxley nach Dr. Webb schicken?«
»Nein. Er kann nichts für mich tun.«
»Was ist es denn dann?« Sie erblickte den zusammengeknüllten Brief. »Haben Sie schlechte Nachrichten erhalten?«
»Ja. Bittere Nachrichten.«
»Ihre Mutter?«
»Nein. Mutter geht es gut, soweit man das von einer Frau sagen kann, die gezwungen wurde, ihr Heim zu verlassen. Sie ist bei Freunden in Newnham.« Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, völlig verzweifelt.
»Kann ich denn wirklich gar nichts für Sie tun? Möchten Sie vielleicht etwas einnehmen, das Ihnen Linderung verschafft?«
»Wenn Sie Brandy meinen – davon hatte ich bereits genug, aber es hat mir wenig Erleichterung gebracht.«
»Soll ich Vater rufen?«
»Nein. Lassen Sie ihn schlafen.«
»Soll ich Sie vielleicht lieber allein lassen?«
»Nein, bleiben Sie,
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