Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
wieder ins Bett gehst.«
Doch dabei stand er ganz still und machte keine Anstalten, sich von ihr abzuwenden oder sie von sich wegzuschieben. Sie hätte ihn gerne noch einmal geküsst, damit sein Gesicht diesen trostlosen Ausdruck verlor, um ihn noch einmal lächeln zu sehen. Aber er war zu groß für sie, ihr Kopf reichte ihm nur bis zu der Schulter.
»Tu's«, wiederholte er in einem rauen Flüstern und einen Augenblick lang war sie nicht sicher, ob er meinte, dass sie gehen oder dass sie ihren unausgesprochenen Wunsch in die Tat umsetzen sollte. Sie fühlte sich nicht etwa abgewiesen oder verschmäht, sondern im Gegenteil ermutigt. Mit einem Mal war sie seiner Zuneigung ganz sicher und das machte sie nicht einfach nur froh, nein, sie empfand ein geradezu rauschhaftes Entzücken. Wie konnte es auch anders sein, nachdem sie ihr ganzes Leben lang nur an ihn gedacht hatte, nachdem er seit ewigen Zeiten der Schönste und Klügste von allen für sie gewesen war? Nach all den Jahren, die sie ihn nun schon liebte, von ihm träumte, ihn aber gleichzeitig als völlig außer Reichweite ihrer Wünsche betrachtete, war er jetzt hier, stand vor ihr und – er liebte sie!
Sie hob seine Hand, liebkoste sie mit ihren beiden Händen und küsste sie. Er stöhnte, als habe sie ihm einen Schmerz zugefügt.
»Lass mich.«
Sie sah ihn an, innerlich zutiefst aufgewühlt. »Wie könnte ich?« Sie presste seine Hand auf ihr Herz. »Wo ich dich doch genauso liebe.«
»Aber …«, seine Augen fielen auf den zerknüllten Brief, »ich darf dich nicht lieben.«
»Du tust es doch bereits.«
Charlotte konnte kaum atmen und schmiegte sich enger an ihn.
Er flüsterte: »Charlotte, du tötest mich. Ich bin nur ein Mann.«
Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen und er zog sie in seine Arme, neigte seine Lippen den ihren entgegen und küsste sie zärtlich. Halb setzte er sich, halb sank er in den Sessel hinter sich, hielt sie fest und küsste sie wieder und wieder.
Doch plötzlich stieß er sie weg, stand auf und wandte sich ab. Sie fiel in den Sessel. Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Charlotte, geh. Wir dürfen nicht so zusammen sein.«
Obwohl er mit dem Rücken zu ihr stand, nahm sie seine zur Faust geballte Hand in die ihre und drehte ihn um, sodass er ihr wieder ins Gesicht sah. Sie fühlte die kalte Nachtluft auf ihrem Hals, ihren Gliedern, ihren Schultern, spürte seine Hand in ihrer und wollte mehr spüren. Sie dachte nicht nach, traf nicht bewusst die Entscheidung, die Schwelle zu überschreiten; sie hatte keine Erfahrung in diesen Dingen. Sie wusste, dass eine Frau einen Mann trösten konnte, aber sie wusste nicht, wie. Und sie wusste, dass sie diesen Mann liebte. Sie dachte nur daran, ihr Zusammensein zu verlängern, ihm so nahe zu sein, wie es ihr nie erlaubt gewesen war. Als sie ihn an sich zog, sah er ihr in die Augen.
Sie wusste nur wenig von der körperlichen Liebe. Man hatte ihr nur erzählt, dass manche Männer nicht vertrauenswürdig seien und sie deshalb nie ohne Anstandsdame mit einem Mann allein bleiben dürfe. Aber sie hatte Mr Harris immer vertraut und wusste, dass auch ihr Vater ihm vertraute. Mr Harris war nicht irgendein Mann, er war wie ein Verwandter. Sie hatte sich noch nie in seiner Gesellschaft gefürchtet, auch nicht, wenn sie mit ihm allein war, bis zu diesem Augenblick. Erst als er sich jetzt über sie beugte, läuteten in ihrem vor Verlangen schwindeligen Kopf die Alarmglocken. Sie versuchte, sich ihm zu entziehen »Warte, ich …«
Er hielt sofort inne und blickte in plötzlichem Begreifen auf sie hinunter, zu Stein erstarrt.
Doch irgendwie, obwohl sie keinen Schmerz gespürt hatte, war es bereits geschehen.
Am Morgen war Charlotte mit der verzweifelten Hoffnung erwacht, dass sie die Ereignisse der letzten Nacht irgendwie falsch in Erinnerung hatte. Sie war sich nicht mehr sicher, ob das, was – wie sie befürchtete – geschehen war, tatsächlich geschehen war. Doch in den kalten, dunklen Nachtstunden, in denen sie allein in ihrem Bett gelegen hatte, war ihr mit vernichtender Klarheit bewusst geworden, dass sie in dieser Nacht gegen sämtliche Regeln des Anstands und alle gesellschaftlichen Konventionen verstoßen und wohl auch den letzten Anschein von Tugend verloren hatte. Aber schlimmer noch, sie hatte Mr Harris verloren, seine Achtung und seine Liebe. Sie setzte sich im Bett auf. Dabei fiel ihr Blick auf einen Brief, der offenbar unter ihrer Tür hindurchgeschoben worden war. Sie
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