Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
und sie musste sich auf die Lippen beißen, um die Tränen zurückzuhalten.
»Ich finde, er sieht aus wie Charles. Meinst du nicht auch, Charlotte?«
»Das kann ich nicht sagen …«
»Natürlich kannst du, du kennst meinen Mann schließlich länger als ich.«
Charlotte bekam einen trockenen Mund. Sie studierte das Gesicht des Kindes, froh um die Entschuldigung, seinen Anblick genießen zu dürfen.
»Ja, ich sehe die Ähnlichkeit«, sagte sie dann ruhig. »Tatsächlich.«
Sie entschuldigte sich bei ihren Gästen und ging mit ihrer Großtante in die Küche, um Tee zu kochen. Dann half sie ihr, das Tablett hineinzutragen und ihre Gäste zu bedienen. Als sie Tee einschenkte und Scones reichte, versuchte sie vergeblich, ihre zitternden Hände stillzuhalten. Sie war erleichtert, dass Margaret spontan beschlossen hatte, zusätzlich zu ihrem gewöhnlichen frugalen Tee noch etwas Kuchen beim Bäcker zu kaufen.
Katherine reichte Edmund an Sally weiter und legte sich statt seiner eine der Damastservietten auf den Schoß. Als sie an ihrem Tee nippte, konnte sie jedoch eine Grimasse kaum unterdrücken – Margaret kochte aus Sparsamkeitsgründen immer nur sehr schwachen Tee. Danach fing sie an, das verlegene Schweigen mit ihrer wohlklingenden Stimme zu füllen und erzählte, dass sie ihr Londoner Stadthaus für einige Monate geschlossen hatten und auf Charles' Landsitz zurückgekehrt waren.
»Charles ist der Meinung, dass die Landluft besser für Edmund ist. Ich weiß nicht, ob es mir auf dem Land gefallen wird, so isoliert vom Rest der Welt. Ich werde die Saison in der Stadt vermissen. Aber ihr wisst ja, wie das ist – mütterliche Selbstaufopferung und so weiter. Nur das Beste für Edmund.«
Charlottes etwas steifes Lächeln begann zu verschwimmen. Sie führte gerade noch rechtzeitig die Teetasse an ihre Lippen, um ihre zitternden Lippen zu verbergen.
Katherine biss ein Stückchen von ihrem Scone ab. Es schien ihr mehr zuzusagen als der Tee. Dann herrschte wieder Schweigen im Zimmer. Selbst Margaret war nicht so redselig wie sonst. Vielleicht war sie ein bisschen eingeschüchtert, weil sie eine so vornehme Dame zu Besuch hatte.
Plötzlich war, über dem feinen Klirren edlen Porzellans und dem Ticken der Kaminuhr, der Schrei eines Babys zu hören. Einen Augenblick lang saßen alle wie erstarrt und zunächst hatte es den Anschein, als habe keiner etwas gehört. Charlottes Augen waren fest auf ihre Tasse geheftet; sie betete, dass Anne wieder einschlafen möge. Aber dann kam noch ein Schrei. Margaret blickte als Erste zu ihr hinüber. Sally schaute erst auf Edmund, der vergnügt auf ihrem Schoß saß, und sah sie dann fragend an. Katherines Augen wanderten von einer zur anderen.
Charlotte erhob sich und sagte mit entschlossener Fröhlichkeit: »Das war aber ein kurzes Schläfchen!« Sie ging ins Gästezimmer und sah in die kleine Wiege hinunter auf Daniel Taylors Tochter. Annes Gesichtchen war ganz zerknittert vor Bedrängnis, entspannte sich jedoch sofort, als Charlotte sie auf den Arm nahm.
»Verzeih mir. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll«, flüsterte sie und kehrte in den Salon zurück.
»Und das ist Anne«, sagte sie und nahm wieder ihren Platz auf dem Sofa ein. Verzweifelt versuchte sie, Konversation zu machen. »Das mit dem Feuer hat uns allen so furchtbar leidgetan. Sind die Reparaturen denn jetzt abgeschlossen?«
»Ja, größtenteils«, sagte Katherine, die Augen auf Anne geheftet.
»Und Mrs Harris. Ich meine … Mr Harris' Mutter. Es geht ihr hoffentlich gut?«
»Ja, sehr gut. Sie ist froh, wieder in ihrem geliebten Heim zu sein, und hat große Freude an ihrem Enkel.«
»Natürlich.«
»Du kennst auch ihren anderen Enkel, nicht wahr?«, fragte Katherine.
»Ja. Mr Bentley hat uns einmal im Pfarrhaus besucht.«
Katherine sah Charlotte forschend an, dann fiel ihr Blick wieder auf das Kind in ihrem Arm. Sie stellte ihre Tasse ab.
»Dann zeig dich doch mal. Anne, nicht wahr?« Katherine streckte die Arme aus und ließ Charlotte keine andere Wahl, als aufzustehen und ihr das Kind zu geben.
»Hallo, Miss Anne«, begann Katherine und setzte sich das Mädchen auf den Schoß. »Warum machst du denn einen solchen Aufruhr? Das ist nicht sehr damenhaft. So, jetzt ist es besser. Ich glaube, meine Federn gefallen ihr.« Katherine Harris äußerte keine konventionellen Plattitüden über die Schönheit oder Vollkommenheit des Kindes. »Sie ist völlig anders als Edmund. Sie sehen sich überhaupt nicht
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