Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
Bett auf, damit sie wenigstens ein Minimum an Privatsphäre hatte, falls ein Familienmitglied plötzlich den Wunsch verspürte, hereinzukommen und Anne zu holen, deren Wiege auf der anderen Seite des Zimmers stand.
In den ersten Tagen, die sie alle noch in London verbrachten, wirkte Lizette Taylor durchaus glücklich. Glücklich vor allem, ihre Tochter wiederzuhaben. Stundenlang trug sie Anne herum, hielt sie auf dem Schoß, wiegte sie, sprach mit ihr in ihrer Muttersprache und sang ihr französische Liedchen und Schlaflieder vor. Anne war, obwohl sie ihre Mutter noch gar nicht kannte, entzückt über diese enthusiastische Zuwendung und wechselte ohne Aufhebens von Charlottes Armen in Lizettes, worüber Charlotte um Mrs Taylors willen sehr erleichtert war.
Die Gewöhnung an ihren Großvater fiel ihr schwerer, wahrscheinlich, weil ihr während der Monate in Crawley abgesehen von den gelegentlichen Besuchen ihres Vaters wenig männliche Aufmerksamkeit zuteil geworden war. Doch nach den ersten Tagen zitterte ihre Unterlippe nicht mehr, wenn er mit ihr sprach, obwohl sie ihn nicht aus den Augen ließ, wenn er in ihre Nähe kam.
Da Charlotte sehr gut nachempfinden konnte, was Daniels Frau empfand, weil sie die ersten kostbaren Monate im Leben ihrer Tochter verpasst hatte, hielt sie sich so weit wie möglich im Hintergrund und bot erst an, Anne zu übernehmen, wenn diese zu greinen begann oder wenn es Zeit zum Stillen war.
Deshalb konnte sie sich auch die Ursache von Lizettes zunehmender Launenhaftigkeit nicht erklären.
»Bitte, nehmen Sie sie, Miss Lamb, ich bekomme Kopfschmerzen«, hörte sie nun fast täglich. Oder: »So, und nun gehst du wieder zu deiner Amme. Ta mère muss sich hinlegen und ausruhen.«
Der Frühling war in diesem Jahr kälter und trüber als sonst. In der letzten Aprilhälfte regnete es an fünf von sieben Tagen. Dieses Wetter kann ja den fröhlichsten Menschen mürrisch machen , dachte Charlotte bei sich.
Mrs Taylor fing an, stundenlang allein im Wohnzimmer zu bleiben. Sie lag auf dem Sofa und starrte ins Leere. Oft weigerte sie sich, morgens die Fensterläden zu öffnen oder eine Lampe anzuzünden, wenn es dunkel wurde. Da die Familie nur eine Dienerin hatte, blieb manchmal einfach keine Zeit, es für sie zu tun. Charlotte half, wo sie konnte und so unauffällig wie möglich. Und sie betete.
»Ich mache mir Sorgen um Lizette«, sagte Daniels Vater eines Abends ruhig, als die beiden Männer bei lauwarmem Tee im Esszimmer saßen. Die Tage des abendlichen Portweins nach dem Essen waren vorüber.
»Ich ebenfalls«, gab Daniel zu. »Ich frage mich, ob ein Ortswechsel ihr guttun wird. Mir wurde für ein paar Monate ein Cottage an der Küste angeboten.«
»Wo?«
»An der Südküste. In Frankreich hat sie am Meer gelebt.«
»Aber … Manor House … was wird aus deiner Arbeit dort?«
»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht kann ich einen zeitweiligen Ersatz finden. Ich weiß, was das Heim dir bedeutet, aber ich kann mich nicht zerreißen.«
»Es ist wichtig, Daniel. Es ist mein Lebenswerk.«
»Es war dein Lebenswerk, Vater.«
Daniel sah, wie das Leuchten in den Augen seines Vaters erlosch. Sofort bereute er, was er gesagt hatte. »Ich muss dich wieder einmal um Vergebung bitten, Vater. Ich habe nicht das Recht, meine Erschöpfung an dir auszulassen.«
»Du bist beunruhigt, mein Sohn. Das verstehe ich. Und ich weiß auch, dass ich dich enttäuscht habe. Ich habe mich ja selbst enttäuscht. Ich bin schwach gewesen – weder der Bruder noch der Vater, der ich hätte sein sollen, und auch nicht der Arzt …«
»Vater …«
»Aber ich habe auch manches Gute bewirkt. Mütter, die ohne mich gestorben wären, leben. Kinder auch. Deshalb ist Manor House mir so wichtig. Versprich mir … dass du die Einrichtung weiterführst, wenn du kannst. Wenn nicht für mich, dann für die arme Tante Audrey, Gott schenke ihrer Seele Frieden.«
Daniel schloss die Augen. Wie immer, wenn sein Vater Tante Audrey erwähnte, überwältigten ihn Schuldgefühle, obwohl er sie nie gekannt hatte. Die Schwester seines Vaters war als junge Frau in einer schäbigen Wöchnerinnenklinik gestorben. Bis vor Kurzem waren die medizinischen und hygienischen Standards in diesen Einrichtungen mehr als nachlässig gewesen. Deshalb hatte John Taylor im Gedenken an seine Schwester mit anderen Wundärzten, Ärzten und Wohltätigkeitseinrichtungen zusammen Manor House für ledige Mütter gegründet. Das war natürlich, bevor sein Ruf
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