Die Lagune Der Flamingos
Buenos Aires zur Hand gehen, um zu sehen, ob die Juristerei etwas für mich ist. Mama hat mir gesagt, ich solle La Dulce doch vorher einen Besuch abstatten, wenn ich schon in der Gegend bin.«
Eduard schüttelte den Kopf. »Ist es schon so weit, sich einen Beruf zu suchen?«
»Ich bin fast sechzehn Jahre alt.« Paco lächelte.
»Das ist noch jung«, bemerkte Eduard.
»Nun, vielleicht, aber Mama sagt, mein Verschleiß an Hauslehrern lasse ihr keine andere Wahl. Ich müsse sobald wie möglich anfangen, auf eigenen Füßen zu stehen.«
Rechtswissenschaften …, dachte Mina, ein Indio?
Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ihrer Mutter erging es wohl nicht anders, das konnte sie deutlich an ihrem Gesichtsausdruck ablesen.
Im Verlaufe des Gesprächs erfuhren sie, dass Pacos Mutter eine Weiße war, sein Vater aber ein Mestize. Die beiden führten die Estancia Tres Lomas in der Nähe von Tucumán. Soweit Mina verstand, war es Pacos Mutter Viktoria, für die Eduard La Dulce verwaltete. Paco, so wurde Mina schnell klar, sah seine Zukunft hingegen nicht in der Verwaltung von Ländereien, sondern in der Verteidigung der Rechte der indigenen Völker Argentiniens. Er freute sich auf seine Zeit bei dem Rechtsanwalt. Am Abend dieses Tages lag Mina noch lange wach und dachte über Paco und seine Pläne nach. Zuerst waren ihr seine Ideen unsinnig erschienen, eine bloße Traumtänzerei, dann hatte sie seine Entschlossenheit beeindruckt. Paco ließ sich nicht beirren. War er damit nicht ein Vorbild?
Manchmal, wenn Annelie vor dem Spiegel stand, verschwammen die Konturen vor ihren Augen plötzlich. Dann, wenn das Bild wieder klar wurde, klaffte mit einem Mal eine riesige Wunde auf ihrer Stirn. Blut strömte ihr über das Gesicht. Das erste Mal, als das geschehen war, hatte sie vor Entsetzen so laut aufgeschrien, dass Mina an ihre Seite geeilt war – gerade noch rechtzeitig, um ihre ohnmächtige Mutter aufzufangen. Annelie hatte Mina natürlich nicht sagen können, was passiert war. Mina wusste ja nichts, und sie sollte auch niemals erfahren, was Annelie Schreckliches getan hatte.
Auch jetzt war wieder einer dieser schrecklichen Momente. Annelie presste die Lider fest aufeinander. Das Bild sollte weg. Sie wollte das nicht sehen. Sie wollte nicht Philipps blutüberströmtes Gesicht sehen.
Mörderin! Hängt sie, die Mörderin!
Ich habe es für Mina getan, sagte Annelie sich stumm, für Mina, dafür soll mich Gott zu gegebener Zeit richten. Nur nicht jetzt schon, nicht, bevor ich meine Kleine in Sicherheit weiß.
Langsam öffnete sie die Augen wieder. Das Gesicht im Spiegel war wieder das ihre. Sie atmete tief durch und nahm die filigrane Kette von der Kommode. Es war eine Silberkette mit einem zarten Schmetterling als Anhänger. Wenn ein Mann ihrer Tochter so etwas schenkte, dann konnte sie doch sicher sein, dass er sie liebte, nicht wahr?
Annelie hob die Kette hoch und hielt sie sich einen Moment lang selbst ans Dekolleté. Das Schmuckstück stand auch ihr ausgesprochen gut. Sie seufzte.
Sie sagte nichts, als Mina an diesem Abend verschmitzt und zerzaust wie ein junger Bursche von einem Ausritt mit Paco Santos nach Hause kam. Sie ließ die Badewanne mit Wasser füllen und gab duftende Essenzen hinzu. Sie wusch ihrer Tochter die Haare, kämmte und flocht sie danach zu einer aufwendigen Frisur. Dann holte sie die Schachtel hervor, die Eduard ihr am Morgen erst überreicht hatte. Er konnte es nicht lassen, ihnen immer wieder etwas Hübsches zum Anziehen aus der Stadt mitzubringen. Annelie versuchte jedes Mal, sich zu weigern, das Geschenk anzunehmen, aber Eduard bestand darauf und freute sich sichtlich, wenn sie ihm die schönen Kleider vorführten.
Minas Mutter öffnete die Schachtel. Das Seidenkleid, das darin lag, war zartgrün und würde vortrefflich zu Minas Teint und ihren Haaren passen. Eduard hatte es, ebenso wie das Kleid für Annelie, auf der Calle Florida gekauft, bei Lenchen, seiner Schwester. So reizend wie ihre Tochter würde Annelie aber sicherlich nie aussehen.
An diesem Abend schnürte sie Mina, bis die protestierte, und träufelte ihr dann etwas Duftwasser in den Ausschnitt, bevor sie ihr die Kette umlegte. Für einen Moment standen beide Frauen nebeneinander und betrachteten das Ergebnis im Spiegel.
Als sie zum Essen ins Wohnzimmer kamen, ruhte Eduards Blick für einen Moment auf Minas Dekolleté, doch in seinem Ausdruck zeigte sich nichts, was mehr als freundlicher Bewunderung gleichkam.
Wieder
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