Die Lagune Der Flamingos
»Unser Sohn ist wirklich in Gefahr?«
Pedro nickte. »Ich muss sofort los. Je schneller ich bin, desto …«
Viktoria ließ ihn nicht ausreden. »Ich komme mit.«
Pedro drehte sich zu ihr um, hielt sie so zärtlich in den Armen, dass es Viktoria verwirrte.
»Aber das ist zu gefährlich, Liebste.«
»Nein, ich muss unserem Sohn helfen. In dir wird man nur einen Mestizen sehen, vielleicht sogar einen Feind.«
Nur kurze Zeit später hatten die Stallburschen ihnen frische Pferde gesattelt. Viktoria trug Hosen und wie Pedro einen Poncho, der sie gegen Hitze und Kälte schützen würde. Sie sprengte so schnell davon, dass Pedro Mühe hatte, ihr zu folgen. Aber auch Viktoria wusste, dass die Pferde dieses Tempo nicht lange durchhalten würden, und fiel in Trab, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte. Dann ritten sie schweigend nebeneinander her.
Beide hatten sie nur ein Ziel: ihren gemeinsamen Sohn zu retten.
»Paco Santos?«
Der Kommandeur des kleinen Forts, der Viktoria am Tisch gegenübersaß und sich in seinem Stuhl zurücklümmelte, tat, als hätte er nicht richtig verstanden. Viktoria beschloss, sein Verhalten zu ignorieren.
»Ja, ich frage Sie hiermit noch einmal, ob Paco Santos hier ist oder hier war.«
»Und wer fragt das noch einmal?«
Der Mann klang gelangweilt. Er trug einen dicken, etwas ungepflegten Schnurrbart. Das Haar auf seinem runden Schädel glänzte fettig. Seine Uniform war zu Viktorias Erstaunen jedoch untadelig, und er sah gut trainiert aus. Trotzdem wollte alles nicht recht zusammenpassen. Sein Kopf war viel zu klein und rundlich für den Rest seines Körpers, die Stimme zu hoch dafür, dass sie einem Mann gehörte.
»Wie ich schon sagte, ich bin Viktoria Santos. Bei dem jungen Mann, den ich suche, handelt es sich um meinen Sohn. Er ist vor etwa zwölf Tagen aufgebrochen. Ich dachte, er sei mit seinem Vater unterwegs …«
»So, der Vater ist Ihnen also auch abhandengekommen, Señora …«
»Santos. Ich gehöre zu der Familie Santos aus Salta.«
Auf dem Gesicht des Mannes zeigte sich keine Regung. Zum ersten Mal verfluchte Viktoria es, dass jemand den Namen nicht kannte. Sie versuchte es trotzdem weiter.
»Also, ist Señor Santos hier? Ich habe eindeutige Hinweise, dass er hierher reiten wollte.«
»Hier sind nur Indianer.«
»Nun, mein Sohn sieht ein wenig aus wie ein Indianer.«
»So?«
Der Kommandeur musterte Viktoria nun von oben bis unten. Die konnte ihre aufkeimende Wut nur schwer bezähmen.
Ruhig Blut, sagte sie zu sich, Paco ist hier. Er ist hier, das spüre ich. Ich sollte diesen Mann nicht verärgern.
»Schon einmal davon gehört, dass Kinder ihren Vätern ähnlich sehen?«
»So? Und was ist jetzt noch einmal mit seinem Vater?«
Viktoria biss sich auf die Lippen, bevor sie antwortete. »Ich dachte, mein Sohn sei mit ihm unterwegs. Stattdessen ist er wohl hierher geritten, um …«
»Und wieso das, Señora Santos? Was will ein Zivilist hier in der Gegend? Er gehört doch nicht etwa zu den Aufrührern?«
»Nein, mein Sohn ist ein unschuldiger junger Mann, der allenfalls ein wenig abenteuerlustig ist.« Entschlossen hob Viktoria den Kopf. »Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren. Und wagen Sie es nicht, mich weiter zu vertrösten. Seien Sie gewiss, meine Familie hat Einfluss. Es wird Ihnen noch leidtun, falls Sie mich weiter verärgern«, bluffte sie.
Für einen Augenblick schien der Kommandeur zu überlegen, dann stand er mit einem schweren Seufzer auf und ging auf die rückwärtige Tür zu.
»Nun denn, wenn Sie bitte einen Moment warten wollen, Señora Santos.«
Paco war nicht bei Sinnen, als sie ihn aus dem Verschlag holten. Er hatte sich eingekotet und eingenässt. Der ganze Verschlag stank nach Exkrementen. Der junge Mann war außerstande zu reiten, also besorgte Pedro einen Karren, mit dem sie Paco zum nächstgelegenen Hotel fuhren. Er hatte eine Verletzung am Hinterkopf, was Viktoria erst bemerkte, als er sich bei einer versehentlichen Berührung zusammenkrümmte. Sein schlechter Zustand war aber offenbar auch auf ein schweres Fieber zurückzuführen.
Während der ganzen ersten Nacht, in der sie an Pacos Bett wachten, sagte Pedro kein Wort. Viktoria konnte nur an seinem Gesichtsausdruck sehen, welche Angst er um seinen Sohn hatte. Sie hätte gern geweint, aber sie war wie erstarrt vor Entsetzen.
Wir hätten ihn beinahe verloren, hämmerte es in ihrem Kopf, wir hätten ihn beinahe für immer verloren.
Eine Woche lang waren sie nun in dem Hotel.
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