Die Lagune Der Flamingos
weiter, »wäre es nicht ebenso gerecht, die Männer zu bestrafen, die die Prostituierten besuchen?«
»Gewissermaßen.«
»Und warum tun sie es nicht?«
John zuckte die Achseln.
Warum tun sie es nicht … Warum tut man dies und etwas anderes nicht? Warum verrät man den Freund und lässt dessen Ehefrau ohne eine Erklärung zurück? Warum überlässt man sich seinen Stimmungen, statt zur Arbeit zu gehen, um Frau und Kind versorgen zu können? Warum verändert man nichts, wenn man doch weiß, was man ändern müsste?
John räusperte sich. Marlena sah ihn fragend an. Er wollte ihr so gern gestehen, was für ein Mann er war. Aber er konnte es nicht.
Drittes Kapitel
Paco hatte jetzt endgültig genug.
»Ich wünsche sofort, einen Verantwortlichen zu sprechen!«
Sein Gegenüber, offenbar überrascht über die gewählte Ausdrucksweise des Indios, schaute ihn abschätzig an.
»Und, was wünschst du dann zu tun, Señor … ?«
Paco zögerte nur kurz. »Santos ist mein Name«, sagte er, »Paco Santos, ich bin … äh … Rechtsanwalt, und ich verlange, die Gefangenen zu sehen.«
»Sie verlangen was?«
Offenbar hatte die Verblüffung den Kommandeur des kleinen Forts dazu gebracht, Paco zu siezen, doch im nächsten Moment fing er sich wieder. Wut über die Aufmüpfigkeit dieses verdammten Indios zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
»Für wen hältst du dich eigentlich?«
»Ich …«, setzte Paco an, ohne dem Mienenspiel seines Gegenübers Beachtung zu schenken.
Doch anstatt ihm zuzuhören, sprang der Mann auf. Er war nicht größer als Paco, aber deutlich breiter, und er hatte einen brutalen Zug um den Mund. Von einem Moment auf den anderen fühlte Paco sich äußerst unbehaglich. Die Arbeit bei dem Rechtsanwalt, die er über die letzte Zeit ausgeübt hatte, hatte seine Körperkraft nicht gerade gestärkt. Er war auch weit weniger wendig als noch ein paar Monate zuvor. Über dem ganzen Papierkram war er selten ausgeritten. Er hatte keinen Sport getrieben und war auch nicht geschwommen.
»Nein«, brüllte der Mann da auch schon, »ich sage dir jetzt, was Sache ist, du Indio-Lümmel. Du hältst schön dein Maul, wie es dein ganzes Volk hier tut, sonst lasse ich dich in Einzelhaft sperren.«
»Dazu sind Sie nicht … Ich bin Paco Santos von Tres Lomas bei Tucumán. Ich bin kein …«
Paco kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Ein brutaler Schlag riss ihn von den Füßen und schleuderte ihn rückwärts. Mit dem Kopf prallte er gegen etwas Hartes, dann wurde es schwarz um ihn herum.
Als Paco wieder erwachte, befand er sich in einer Kammer, die so eng war, dass er sich nicht erheben konnte. Er war gezwungen, bäuchlings, auf dem Rücken oder auf den Knien zu verharren. Offenbar hatte der Verschlag einmal dazu gedient, Holz oder irgendwelche anderen Brennmaterialien zu lagern. Paco meinte, einen leichten Geruch von Tierdung wahrzunehmen. Durch die Spalten zwischen den Wandbrettern fiel etwas Licht zu ihm herein. Sein Kopf dröhnte, als er sich bewegte. Beinahe hätte er sich übergeben, doch er hatte am Morgen nichts gegessen, sodass sein Magen auch nichts als Galle hervorbrächte.
Mühevoll robbte er zu einer der Wände seines Gefängnisses und spähte nach draußen. Er konnte den Hof erkennen. Es war immer noch heller Mittag – lange war er gewiss nicht ohne Bewusstsein gewesen. Vom gleißenden Licht der Sonne ungeschützt kauerten dort Gruppen von Indios, die er auch bei seiner Ankunft schon gesehen hatte.
Der Feldzug gegen die Chaco-Indianer hatte im Oktober 1884 von Puerto Bermejo aus begonnen, der kleinen Hafenstadt südlich der Mündung des gleichnamigen Flusses in den Río Paraguay. Die Expedition folgte dem Lauf des Bermejo westwärts. Ohne auf ernsthafte Gegenwehr zu treffen, drang man in den Chaco ein. Mit einer gewissen Bitterkeit hatte Paco, seit Langem wieder einmal auf Besuch bei seinen Eltern in Tucumán, davon gehört, dass der Kriegsminister, Benjamin Victoria, wie einst die Konquistadoren überall die Unterwerfung und Treueschwüre der Kaziken entgegennahm. Irgendwann hatte er sich entschlossen, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Zehn Tage war er bis hierher unterwegs gewesen.
Paco unterdrückte einen Seufzer. Nun, diesen Menschen dort draußen hatte er wohl einen Bärendienst erwiesen. Anstatt ihnen zu helfen, hatte er sich überwältigen lassen wie ein kleiner Junge. Was tue ich jetzt?, überlegte er, doch sein schmerzender Schädel machte es ihm unmöglich, präzise Pläne zu
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