Die Lagune Der Flamingos
einer der zwei Vorarbeiter auf Santa Celia. Erstaunlich sanft strich er ihr jetzt über die Wange, streifte dann eine Haarsträhne zurück, die sich aus Viktorias Frisur gelöst hatte. Im nächsten Moment wanderte sein Blick zu der zerborstenen Scheibe, vor der sich die Vorhänge im Abendwind bewegten. Viktoria sah, wie sich sein Ausdruck verdüsterte.
»Haben sie dich verletzt?«
»Nein, nein, es geht mir gut.«
»Und die Kinder?«
»Sie schlafen schon.« Viktoria lächelte zaghaft. »Ich bin froh, dass sie es dieses Mal nicht mitbekommen haben. Estella und Paco sind beim letzten Mal furchtbar erschrocken.«
Pedro schwieg. Unschlüssig ließ Viktoria ihn los.
»Vielleicht sollten wir …«, sprach sie zum ersten Mal laut das an, was sie nun schon einige Wochen umtrieb, »… vielleicht sollten wir doch von hier fortgehen?«
»Fortgehen?« Pedro runzelte die Stirn.
»Vielleicht war es falsch zurückzukommen …«
»Du willst dich von diesen Verbrechern verjagen lassen?«
»Denk an die Kinder.«
Langsam schüttelte Pedro den Kopf. »Aber ich denke an die Kinder, sei dir gewiss, ich denke an sie. Vergiss nicht, Estella ist auch Humbertos Tochter. Sie ist seine Erbin . Nein, wir laufen nicht weg wie geprügelte Hunde.«
Viktoria wollte noch etwas sagen, schloss dann jedoch den Mund. Wortlos schmiegte sie sich erneut in Pedros Umarmung.
Es würde nicht leicht sein, ihn umzustimmen.
Der nächste Morgen war einer der schönsten der letzten Wochen. Anstatt viel zu früh aufzuwachen und sich schlaflos in den Kissen zu wälzen, erwachte Viktoria erst, als die Sonne schon in ihr Zimmer schien. Gleich darauf waren ihre Kinder unter jubelnden Schreien zu ihr ins Bett gesprungen. Wenig später brachte Marisol, eines der Dienstmädchen, eine Kanne heißen Kakao. Estella, Paco und Viktoria taten sich gütlich daran und an den weichen, süßen Brötchen und der dulce de leche . Durch die geöffneten Fenster hörten sie die Stimmen von Pedro und Jonás Vasquez, dem zweiten Vorarbeiter. Beide waren gute Arbeiter, und Viktoria war mehr als froh, die Männer an ihrer Seite zu wissen. All die Geräusche und Stimmen, das Lachen und der Gesang vereinigten sich zu einem wohlig warmen Gefühl in Viktoria, das ihr für diesen Moment Sicherheit verhieß.
Trotz aller Widrigkeiten, dachte sie, ist Santa Celia heute ein fröhlicheres Haus. Trotz aller Schwierigkeiten ist es uns allen über die Jahre zur Heimat geworden. Wer hätte das gedacht?
Viktoria atmete tief durch. Sie hatte die Estancia während ihres langen Aufenthalts in Buenos Aires wirklich vermisst. Sie hatte die Weite der Puna, der Hochebene, vermisst, die Berge, die Ausritte auf ihrer Schimmelstute Dulcinea, die sie nach ihrer Rückkehr freudig wiehernd begrüßt hatte. Santa Celia war ihr wirklich ans Herz gewachsen: das alte und das neue Haus, der Patio mit dem Korallenbaum, der üppige Garten.
Am späten Vormittag schritt sie das Gelände gemeinsam mit Jonás Vasquez ab, um sich vom Fortgang einiger Arbeiten in Kenntnis setzen zu lassen. Vor der Mühle, die ihr und ihren Kindern als Versteck gedient hatte, als sie von Santa Celia hatten fliehen müssen, verweilte Viktoria länger. Bevor Jonás wieder seiner Arbeit nachging, hatte er sie gefragt, ob sie daran denke, die alte Seifensiederei, die einst neben der Mühle der Estancia ihre Dienste geleistet hatte, wieder in Betrieb zu nehmen. Ansonsten, schlug er vor, könne man das alte Gebäude abreißen und an der Stelle vielleicht neue, bessere Unterkünfte für die Knechte und Mägde Santa Celias bauen.
Für einen kurzen Moment fächelte Viktoria sich Luft zu und ließ ihre Gedanken schweifen. Die ersten Vorboten des Sommers legten sich drückend auf ihre Sinne. Von etwas weiter entfernt hörte sie jetzt Estellas befehlende Stimme. Paco protestierte. Die zwölfjährige Estella hatte ihren zwei Jahre jüngeren Halbbruder gut im Griff. Auch wenn sie unterschiedliche Väter hatten, denn Paco entstammte der Beziehung mit Pedro, hatten sich die Kinder stets gut verstanden. Offiziell entstammten ohnehin beide Kinder aus Viktorias Ehe mit Humberto. Humberto hatte dem Jungen seinen Nachnamen Santos nie entzogen.
Seit Kurzem gab Pedro den beiden Kindern Reitstunden. Paco bewunderte seinen leiblichen Vater aus tiefstem Herzen und sprach bereits davon, später ebenfalls die Rechte der Indios zur verteidigen.
Wieder war Estellas energische Stimme zu hören. Viktoria unterdrückte ein Schmunzeln. Ganz sicher lernte Estella
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