Die Lagune Der Flamingos
angeschaut. Mit einem Schiff voller englischer Touristen waren sie danach durch das romantische Rheintal, an der Loreley und unzähligen Burgen vorbei bis nach Bingen gefahren, wo Anna Gustl besucht hatte. Trotz der langen Trennung hatte es keinen Moment gegeben, in dem die Freundinnen einander fremd gewesen waren. Gustl hatte auch nach Annas Bruder Eduard gefragt, dem einmal ihr Herz gehört hatte. Sie war nun jedoch glücklich mit ihrem Mann und ihrer sechsköpfigen Schar kleiner Blondschöpfe, die für Leben im Haus sorgten. Von Bingen aus waren sie schließlich in die Schweiz aufgebrochen. Danach ging es weiter nach Italien. Und jetzt waren sie schon auf der letzten Etappe der Reise.
Nach dem Sommer würde Viktorias Tochter Estella ebenfalls auf Else Pfisters höhere Mädchenschule in Buenos Aires gehen, die Marlena schon seit einiger Zeit besuchte. Viktoria, die, nach einigen schlimmen Vorfällen in Salta, inzwischen in Tucumán wohnte, hatte Anna die Entscheidung noch vor der Abreise telegrafiert. Estella sollte für die Zeit des Schulbesuchs bei den Meyer-Weinbrenners wohnen. Anna wusste, dass sich die Mädchen schon darauf freuten, und hoffte, dass sie nicht nur Schabernack ausheckten. Nachdenklich zog sie nun ihre ältere Tochter mit dem freien Arm an sich und drückte sie.
»Ich bin so froh, dass es dich gibt.«
»Ja, Mama«, erwiderte Marlena ernst und machte sich wieder los.
Das italienische Grüppchen lachte und scherzte derweil immer lauter, bis die lustige Stimmung mit einem Mal kippte und man einander unter Tränen in die Arme sank.
Ich hatte damals auch Angst, dachte Anna. Ach, wie lange war das jetzt her, und wie viel hatte geschehen müssen, bevor Julius und sie ihr gemeinsames Glück gefunden hatten! Sie waren allerdings mit einem Segelschiff gekommen, während sie sich heute an Bord eines Dampfschiffes begeben würden.
»Es ist Zeit«, sagte Julius just in diesem Moment.
Kaum waren alle Passagiere an Bord, wurden die Anker auch schon gelichtet, ein Kanonenschuss ertönte, und die Dampfpfeife gab ihren schrillen Ton von sich. Von der Mole her riefen jetzt Hunderte von Menschen Abschiedsgrüße, von der Nordamerika scholl es tausendfach zurück. Anna und ihre kleine Familie standen schweigend an der Brüstung auf dem oberen Deck. Anna sah nach unten. Ein Ruck, und kleine Wirbel bildeten sich zu beiden Seiten des Schiffes in der dunklen Flut. Schaumperlen flogen auf und warfen die Farbtöne des Abendhimmels in blitzenden Strahlen zurück. Zwei breite Furchen entstanden auf dem ruhigen Wasserspiegel und breiteten sich bald wie ein Riesenfächer aus.
Anna hob jetzt doch den Kopf und sah wie die meisten anderen unverwandt zum Land. Irgendwann war von Genua nichts mehr zu sehen. Minute um Minute trug die Nordamerika sie weiter in die Unendlichkeit des Meeres hinaus.
Fünftes Kapitel
Die Größe des Schiffes gab Marlena ausreichend Gelegenheit, ihre Freiheit zu genießen. Vom Aufstehen bis zur Schlafenszeit war sie auf den Beinen, um Eindrücke zu sammeln und die unterschiedlichen Gruppen von Reisenden, die sich auf einem solchen Schiff immer einfanden, zu beobachten. Fräulein Brand, die ihre Lieblingslehrerin an der höheren Mädchenschule war, hatte sie vor der Abreise dazu ermutigt, Zeichnungen anzufertigen und unterhaltsame Berichte über die Reise zu schreiben. Als Marlena sie gefragt hatte, ob so etwas denn auch ein Beruf sein könne, hatte sie geantwortet: Ja, das nennt man Journalist oder Schriftsteller.
»Und das könnte ich später einmal werden?«, hatte sich Marlena aufgeregt versichert.
Fräulein Brand hatte genickt. »Du kannst viele berufliche Wege einschlagen, Marlena, lass dir von niemandem etwas verbieten oder verderben. Aber bedenke auch, dass es einsam machen kann, wenn der Weg, den man gewählt hat, ein außergewöhnlicher ist.«
Marlena hatte sofort verstanden, wovon die Lehrerin sprach. Fräulein Brand, so sie auch nicht unansehnlich war, galt als eigensinnig und war, obgleich sie das fünfunddreißigste Lebensjahr überschritten hatte, immer noch unverheiratet. Dennoch hatte Marlena in diesem Moment beschlossen, dass sie eines Tages Journalistin oder Schriftstellerin werden würde, vielleicht sogar beides. Die Reisezeit wollte sie dazu nutzen, ihren ersten großen Bericht zu schreiben. Die Begegnung mit Sophie Knox hatte sie in ihrem Entschluss nur noch bestärkt.
Jeden Abend las sie ihrem Stiefvater Julius und ihrer Mutter nun in der gemeinsamen großzügigen
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