Die Lagune Der Flamingos
zusammen. »Da, wo ich herkomme, hungern die Menschen nicht nur, sie sterben sogar hungers.«
»Wo kommst du her?«
»Aus der Gegend von Lwów. Ihr kennt es sicherlich unter dem Namen Lemberg. Und du?«
»Von der Wolga. Du sprichst gut Deutsch, Ruth.«
Die junge Frau zuckte die Achseln. »Ich spreche viele Sprachen. Polnisch, Russisch, Deutsch, Spanisch … Für unsereins ist es gut, schnell zu verstehen.«
Mit scharfen, Olga unverständlichen Worten wies sie jetzt die weinende junge Frau zurecht. Die holte erschreckt Luft und mühte sich im nächsten Moment, die trockenen Schluchzer zu unterdrücken.
»Für unsereins?«, hakte Olga nach.
Ruth musterte sie. »Ich bin Jüdin, hast du das nicht bemerkt?«
»Nein.« Olga schluckte. »Wie sollte ich …? Ich …«
Ruth und Olga sahen einander hilflos an.
Sie flehten beide Gott an, ihnen zu helfen, und wussten doch, dass sie sich jetzt nur noch selbst helfen konnten. Den ganzen Tag über blieben sie allein. In einer Ecke des Verschlags stand ein Nachttopf, in den sie sich erleichtern konnten, in der anderen ein Eimer mit Wasser. Es schmeckte abgestanden, doch es half gegen den Durst. Etwas trockenes Brot stillte den gröbsten Hunger.
Arthur, dachte Olga, bevor sie an diesem Abend endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, ich muss Arthur wiederfinden. Ich muss aus dieser Hölle entkommen.
Viertes Kapitel
Seit jenem Bad im Fluss mit ihrer Mutter hatte Blanca den Eindruck, dass die Zeiten sich noch deutlicher änderten. Aus dem Norden kamen tatsächlich immer mehr Soldaten, aber auch Wissenschaftler in das Grenzgebiet. Die einen, um die Indios endgültig auf ihren Platz zu verweisen, die anderen, um das Gebiet für etwaige Siedler zu erschließen. Die Fremden wählten häufig Blanca, das schöne junge Mädchen mit den unergründlich schwarzen Augen und dem rotbraunen Haar, das golden schimmerte. Sie bezahlten gut.
Damit ließ es sich ertragen, wenn Corazon die Tage im Alkoholdämmer verbrachte, denn wenigstens mangelte es ihnen an nichts. Und Corazon genügte es vollauf, wenn Blanca allein das Geld verdiente, das ihnen beiden das Leben rettete.
Einmal in der Woche kam Jens Jensen, um sich mit Blanca zu unterhalten. Zuerst hatte sein Verhalten das junge Mädchen verwundert, dann akzeptierte sie es. Bis zu seinem Abschied kam auch Bruder Bartholomé weiterhin regelmäßig. Eines Tages jedoch packte er seine Sachen, um weiter nach Süden zu gehen. Die Indios brauchten ihn, sagte er.
Neuerdings legte Blanca täglich ein wenig von ihrem hart verdienten Geld für sich zurück. Irgendwann hatte sie damit angefangen, inzwischen war es zur Gewohnheit geworden. Manchmal stellte sich Blanca vor, ihr Erspartes aus dem Versteck zu nehmen und einfach nach Buenos Aires zu gehen. Aber wie sollte sie den langen Weg allein schaffen? Sie war noch ein so junges Mädchen. Außerdem konnte sie ihre Mutter nicht zurücklassen. Corazon brauchte sie dringender denn je. Blanca war die Einzige, die darauf achtete, dass sie regelmäßig aß, sich wusch und ab und zu frische Kleidung anzog. Corazon wurde immer mehr zum Kind. Sie alleinzulassen, würde ihren Tod bedeuten.
Die Bewohner der Grenzsiedlung wurden überdies wieder häufiger durch Berichte über umherstreunende kriegerische Indios aufgeschreckt. Manchmal fragte Blanca sich, ob Julio unter ihnen war. In jedem Fall war es in diesen Tagen zu gefährlich, die Siedlung zu verlassen. Manchmal kam sie sich vor wie eine Gefangene.
Der Tag, der Blancas Leben erneut vollkommen verändern sollte, begann mit einem Sonnenaufgang, so rot, als stünde der Himmel in Flammen. Blanca war an diesem Morgen recht guter Laune, denn Jens Jensen war am Vortag bei ihr gewesen. Er hatte gut bezahlt. Sie hatte mehr Münzen in ihr Versteck legen können, als sie erwartet hatte, und für den Rest noch den Vorrat an Reis und Bohnen für Corazon und sich aufgestockt.
Als Blanca aufstand, blieb Corazon, wie so oft in letzter Zeit, liegen. Alkoholdunst lag in der Luft, er verlor sich nie mehr ganz. Um dem Gestank wenigstens für einen Moment zu entkommen, trat Blanca auf die viel zu schmale, wacklige Veranda hinaus. Hier hatten die Mutter und sie in den Anfangsmonaten manchmal gesessen und sich ausgeruht, doch das war lange her.
Der Sonnenaufgang zieht sich heute aber ungewöhnlich lange hin, fuhr es Blanca nach einer Weile durch den Kopf, der Himmel leuchtet ja immer noch ganz rot.
Sie trat an die Verandabrüstung und spähte nach Osten, wo sich Streifen
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