Die Lagune Der Flamingos
sie Luft zum Atmen brauchte, trat der Fremde noch weiter von der belebten Straße zurück. Dankbar folgte Olga ihm in die ruhige Seitengasse hinein.
Je näher sie ihm kam, desto deutlicher fiel ihr seine rote, von geplatzten Äderchen überzogene Nase auf. Offenbar ein Mann, der gern einmal dem Alkohol zusprach, zudem etwas vierschrötig. Er hatte ein rundes Gesicht, das man uneingeschränkt freundlich hätte nennen können, wenn nicht, ja, wenn nicht …
Sei nicht ungerecht, rief Olga sich zur Räson, er ist der Erste, der freundlich zu dir ist, der Erste, der dir helfen will.
Der Mann lächelte sie jetzt an und hielt ihr die Hand hin.
Woher weiß er eigentlich, dass ich Deutsche bin, überlegte Olga. Sieht man mir das an, oder … Kann er mir gefolgt sein? Irgendetwas sagte Olga plötzlich, es wäre besser, sich sofort umzudrehen und zurück in den Trubel der Straße zu gelangen.
Zu spät. Kaum war ihr der Gedanke gekommen, wurde ihr auch schon von hinten ein Sack über ihren Kopf gestülpt, fast im gleichen Moment riss man sie hoch. Olga verlor den Boden unter den Füßen. Sie riss den Mund auf, um zu schreien, doch nichts kam. Sie war wie gelähmt vor Schreck. Dann schleppte man sie auch schon weg wie einen Sack Mehl.
Als Olga sich endlich aus ihrer Starre löste und schrie, hörte sie niemand mehr. Und wenn sie jemand gehört hätte, wäre es ihm gleichgültig gewesen.
Irgendwann hatte Olga wohl das Bewusstsein verloren. Als sie wieder zu sich kam, lag sie in einem Verschlag. Durch die Ritzen zwischen den Brettern fielen Streifen von Sonnenlicht. Olga setzte sich auf und wäre fast wieder umgekippt. Ihr war übel, und sie musste sich einen Moment lang darauf konzentrieren, langsam ein- und wieder auszuatmen, bis es besser wurde. Dann schaute sie sich um.
Der Boden des Verschlags, in dem sie sich befand, bestand aus gestampfter Erde. Es gab keine Fenster und nur eine Tür. Jetzt, da sie sich besser fühlte, wagte sie es, vorsichtig aufzustehen. Mit ein paar Schritten war sie an einer der größeren Ritzen zwischen den Brettern angelangt und spähte hinaus, doch sie konnte nichts erkennen. Anscheinend befanden sie sich in Wassernähe. Sie meinte, ein Plätschern zu hören.
Olga drehte sich um und ließ den Blick durch den Verschlag wandern – und erschrak. Sie war nicht die Einzige in diesem Gefängnis. Im Dämmerlicht lagen noch zwei andere junge Frauen. Eine von beiden begann jetzt, herzzerreißend zu schluchzen. Dann setzte sie sich mit einem Mal auf, hob die Hände, presste die Handflächen gegen die Schläfen und schaukelte vor und zurück.
»Lieber Gott«, rief sie auf Deutsch, »lieber Gott, wo bin ich nur? Wo bin ich?«
Olga riss den Blick von ihr los und schaute die andere junge Frau an, die sie offenbar schon länger musterte. Diese war recht groß, schmal und dunkelhaarig und sprach sie jetzt an.
»Wer … was … wie bitte?«, stammelte Olga.
»Man hat dich entführt«, wiederholte die Dunkelhaarige, die ebenfalls Deutsch sprach. »Man wird dich wohl, wie uns auch, in ein Bordell bringen.«
»Ein Bordell? Nein!« Olga hatte so unmittelbar und so laut geschrien, dass sie vor ihrer eigenen Stimme erschrak. Im nächsten Moment war sie an der Tür und rüttelte daran. »Nein! Mein Mann und ich, wir werden Land kaufen. In Brasilien. Wir sind Bauern. Wir wollten uns ein neues Leben aufbauen.«
»Das hier ist Argentinien«, bemerkte die Dunkelhaarige.
»Ja … aber …«, stammelte Olga, »wir werden … wir werden zurück nach Brasilien gehen und …«
»Hat er dir das gesagt?« Die Dunkelhaarige sah sie abschätzig an. »Sie sagen viel, die Männer, wenn ihnen der Tag lang wird, nicht?« Sie kam jetzt näher und streckte Olga die Hand hin. »Ich bin Ruth … Ruth Czernowitz.«
»Olga Weißmüller.«
»Ich sag dir, es ist besser, wenn du deinen Mann vergisst, Olga. Das hier ist Buenos Aires, die Stadt der guten Lüfte und der verlorenen Jungfrauen.«
Olga starrte Ruth an. Dann musste sie sich auch schon über das Gesicht wischen, denn die Tränen fingen unaufhaltsam an zu fließen.
»Wo … wo ist dein Mann?«
»Mein Mann?« Ruth hob eine ihrer schmalen, fein gezeichneten Augenbrauen. »Ich fürchte, der hat mich hierher gebracht.«
»O mein Gott, wusstest du …?«
»Natürlich, wir hatten es besprochen.« Ruth verschränkte die Arme vor der Brust. »Und es war mir recht, ich wollte nicht verhungern.«
»Verhungern?«
»Verhungern, genau.« Die junge Frau zog die Augenbrauen
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