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Die Lagune Der Flamingos

Die Lagune Der Flamingos

Titel: Die Lagune Der Flamingos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofia Caspari
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ihre Tante jetzt leise sagen. »Frankreich, was wäre unsere Mode ohne dieses Land! Was wäre meine Kreativität ohne Paris!«
    John zog seinen Rock enger über der Brust zusammen und kämpfte kurz gegen ein inneres Frösteln an, während er entschlossen weiter in Richtung Zentrum marschierte. Am Tag zuvor hatte man ihm in einer pulpería die Adresse eines Landsmanns genannt, der ihm eine Hilfe sein könnte. Leider hatte der sein Haus in Recoleta jedoch schon längst wieder verlassen und war auf unbestimmte Zeit aufs Land davon. In jedem Fall wohnten Fremde in seinem Domizil, und John war schon am Türsteher gescheitert.
    Ach Gott, was sollte man auch von den wohlhabenden Einwohnern des neuen Stadtteils erwarten?
    Verächtlich schürzte er die Lippen. Er hatte es stets als nur passend empfunden, dass das ach so aristokratische Recoleta auf einem ehemaligen Abfallhügel entstanden war, dort, wo sich vor noch gar nicht allzu langer Zeit stinkende Fischerhütten aneinandergedrängt hatten. Die vor der Gelbfieberepidemie aus Buenos Aires geflohene Bourgeoisie hatte jedenfalls erst 1871 begonnen, sich hier ihre Häuser zu bauen. Von den ersten Siedlern, den Franziskanermönchen des Recoleto-Ordens, war die Basilica del Pilar mit ihrem glockenförmigen Turmaufsatz aus glasierten Kacheln geblieben, deren Glanz den Buenos Aires ansteuernden Schiffen tagsüber den Leuchtturm ersetzte. Die Klostergärten waren in einen Friedhof verwandelt worden.
    John hatte jetzt das dünn besiedelte Gebiet mit seinen kleinen Farmen, Landhäusern, Obstgärten und wenigen Wohnhäusern südwestlich von Recoleta durchquert und mit der Plaza San Martín das nördliche Ende der Calle Florida erreicht. Noch weiter westlich stand ein Schlachthaus, um das sich ein Ring aus schäbigen Verschlägen, Hütten und kleinen Bars drängte, eine Gegend, der man – insbesondere nach Sonnenuntergang – eine gewisse Gesetzlosigkeit nachsagte. Wenn es so weiterging, würde er zu guter Letzt auch dort nach Arbeit suchen müssen.
    John spuckte verächtlich aus, als er nun eine Villa im italienischen Stil passierte. Noch kaum zehn Jahre zuvor war diese Seite von Buenos Aires weitgehend ohne Bevölkerung gewesen, doch auch hier tauchten nun protzige Häuser mit stuckverzierten Wänden und Marmorsäulen auf, üppig dekoriert mit Palmen und Springbrunnen, erbaut von Geld, dessen Erwerb nur durch Ausbeutung möglich gewesen war. John verabscheute ihren Anblick aus tiefstem Herzen. Für ihn waren die conventillos, die Massenunterkünfte, zu denen man die einstigen, traditionell lang gestreckten Häuser reicher porteño -Familien umgebaut hatte, das wahre Buenos Aires, nicht dieses Blendwerk zu schnell reich gewordener Dummköpfe. Buenos Aires, das waren Wohnstätten voller Menschen und ohne sanitäre Anlagen, in denen in allen Sprachen durcheinandergeplappert wurde.
    Auch er hatte derzeit sein Bett in einer dieser Unterkünfte: eine schmale Liege in einem kleinen Zimmer, abgetrennt von seinen Mitbewohnern durch eine viel zu dünne Holzwand. Er hörte es, wenn sie krank waren und husteten. Er hörte es, wenn sie sich liebten. Er hörte ihre Kinder schreien. Er roch ihr Essen, ihren Schweiß, den billigen Alkohol, den sie tranken. Er konnte sich ihnen weder entziehen, wenn sie träumten, noch wenn sie starben.
    Eduard war nicht mehr in Recoleta gewesen, seit Elias dort beerdigt worden war. Eigentlich hatte er sofort hingehen wollen, als er Monicas Zettel gefunden hatte, aber dann waren ihm Dinge dazwischengekommen. Anna hatte noch einmal mit ihm gesprochen und ihn gebeten, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Julius hatte mit ihm über La Dulce reden wollen. Es hatte viel zu erledigen gegeben. Er hatte tatsächlich keine Zeit gefunden, nach Recoleta zu fahren. Für einen kleinen, seltsamen Moment musste er jetzt noch einmal innehalten, dann trat er durch das Tor.
    Der Weg zu Elias’ Grabstätte war rasch gefunden. Sie befand sich neben vielen anderen in einer Wand. Nur der Name stand da, darunter eine Jahreszahl. Sie hatten nicht gewusst, wann Elias geboren worden war, wohl aber, wann er gestorben war. Einen Moment lang stand Eduard da, ohne sich zu rühren. Er las Elias’ Namen einmal, dann noch einmal.
    Nach Elias’ Tod hatte er sich so einsam gefühlt wie zu der Zeit, als er verstanden hatte, dass ihn seine Mutter niemals gegen seinen Vater verteidigen würde. Es hatte lange gedauert, bis er ihr dies verziehen hatte, vielleicht erst mit ihrem Tod.
    Aber, ach Gott,

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