Die Lagune Der Flamingos
Marias Konditorei, in Annas Fuhrunternehmen oder als Dienstmädchen bei irgendeiner reichen Familie. War das nicht gut gewesen? Rahel hob den Kopf.
»Ach, ein Bekannter meiner Tochter«, entgegnete sie lauter. »Er sagt, es nütze nichts, an der Lage ›herumzudoktern‹. Alles müsse geändert werden, von Grund auf.«
»Ach, ein Revolutionär?« Rabbi Feidman lächelte. »Lassen Sie sich nichts vormachen, liebe Rahel, tun Sie weiterhin Ihre Arbeit, denn sie ist gut. Die Frauen brauchen Sie, und wer weiß, ob wir irgendwann nicht doch eine Änderung erreichen werden.«
»Ich glaube, meiner Tochter geht das zu langsam.«
»Jungen Leuten geht so etwas oft zu langsam, dabei haben sie mehr Zeit als wir Älteren.«
Rahel nickte. Feidman hatte ja Recht, und das wusste sie auch. Die Situation in den osteuropäischen Ghettos – auch das hatte sie von ihm erfahren – war herzzerreißend. Für das elende Leben, das viele Frauen und Mädchen dort führten, fehlten ihr einfach die Worte. Anfangs hatte sie angesichts der Geschichten, die sie gehört hatte, oft einfach nur in Tränen ausbrechen wollen. Aber sie wusste, dass Tränen hier nicht halfen. Diese Ungerechtigkeit verlangte Taten. Das hatte ihr in den letzten Tagen auch ihre Tochter Jenny deutlich gemacht. Seit John Hofer zurückgekehrt war, war Jenny strenger zu ihrer Mutter geworden und bewertete deren Entscheidungen viel unbarmherziger.
Ach, in Jenny brennt noch das Feuer der Jugend, fuhr es Rahel unvermittelt durch den Kopf, das ist ganz normal. Das ist sogar gut.
Und vielleicht hatte sie selbst sich sogar deshalb heute dazu entschlossen, einen weiteren Schritt zu tun. Erst kürzlich hatte Rabbi Feidman ihr eine mögliche Veränderung ihrer gemeinsamen Arbeit vorgeschlagen. Rahel hatte sich kurze Bedenkzeit erbeten. Nun sah sie den älteren Mann fest an.
»Ich würde jetzt gern über das sprechen, was Sie kürzlich erwähnten, Rabbi. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Rabbi Feidman zögerte einen Lidschlag lang. »Würden Sie eine der jungen Frauen bei sich aufnehmen, Rahel?«, fragte er dann.
»Aber das habe ich doch schon öfter getan.«
Rabbi Feidman nickte. »Gewiss, doch dieses Mal müsste ich Sie darum bitten, die junge Frau auf eine gewisse Zeit in Ihrem Haus zu verstecken. Niemand dürfte wissen, dass sie dort ist. Es wäre gut …«
»Ja, natürlich«, fuhr Rahel, ohne zu zögern, dazwischen.
Sie hatte sich also nicht geirrt. Es steckte tatsächlich mehr dahinter. Rabbi Feidman wich ihrem Blick nun für einen Moment aus, ganz, als verwirre es ihn, dass ihm kein Widerstand entgegengesetzt wurde. Dann hob er den Kopf und sah sie fest an.
»Dieses Mal haben wir einige Frauen abgefangen. Wir haben die ›Ware‹ vom Markt genommen, bevor sie dem neuen ›Besitzer‹ Geld einbringen konnte. Noch dazu könnte die junge Frau, um die es geht, über wichtige Informationen verfügen. Sie macht einen sehr verständigen Eindruck.« Feidmann runzelte die Stirn. »Aber es könnte Sie auch in große Gefahr bringen, sich dergestalt einzumischen, Rahel Goldberg. Ich habe gehört, dass es inzwischen Männer gibt, die sich durch unser Vorgehen in ihren Geschäften gestört fühlen. Ich weiß nicht, wie sie reagieren werden. Ich weiß noch nicht einmal, ob wir damit überhaupt etwas erreichen.«
Rahel wich Feidmans Blick nicht aus. Es war ein Kampf gegen Windmühlen, doch er war wichtig. Für jedes Mädchen, das sie von der Straße holten, mochten fünf neue dazukommen, doch zumindest eine hatten sie gerettet.
Natürlich tat Feidman gut daran, sie auf die Gefahren hinzuweisen. Die Zuhälter wurden zunehmend brutaler. In den letzten Monaten hatte es außerdem einige äußerst beunruhigende Vorfälle gegeben. Einem vierzehnjährigen Mädchen war von einer gewissen Margarita Charbanie eine Ausbildung zur Näherin angeboten worden, einschließlich Kost und Logis. Doch anstatt Kleidung zu nähen, war das Mädchen sechsundzwanzig Tage lang festgehalten worden. Während dieser Zeit hatte sie sich der Annäherungsversuche eines Mannes erwehren müssen, der für dieses Privileg fünftausend Pesos an Señora Charbanie bezahlt hatte.
Rahel hob entschlossen das Kinn. »Dann werde ich damit umgehen müssen.«
Sie sah, wie sich ein warmherziges Lächeln auf Rabbi Feidmans Zügen ausbreitete. »Sie machen mich stolz, Rahel, auch wenn ich nichts anderes von Ihnen erwartet habe. Sie sind eine gute Frau.« Rabbi Feidman stand auf. »Entschuldigen Sie mich einen Moment, bitte.«
Er
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