Die Lagune Der Flamingos
Zeit auf der Baustelle hatte er gelernt, dass es ebenso viele, wenn nicht sogar mehr Iren mit schwarzen als mit roten Haaren gab.
»In denen stecken noch die alten Kelten«, hatte Wallace ihm erklärt.
Die nächsten Worte des jungen Mannes bestätigten seine Vermutung.
»Máthair«, rief er auf Irisch, »Mutter.«
»Bald kommt Hilfe«, sprach Frank das Erste aus, was ihm in den Sinn kam, doch er bemerkte, dass Wallace die Stirn runzelte. Der Verletzte schaute Frank an. »Es ist schon jemand losgelaufen«, fuhr Frank fort, ohne recht zu wissen, was er da sagte. Er bemerkte einen dünnen Blutfaden, der aus dem Mundwinkel des Mannes rann. »Wie heißt du?«, fragte er. Der Verletzte bewegte die Lippen, aber kein Ton kam heraus. Im nächsten Moment rann noch mehr Blut zwischen seinen geöffneten Lippen hervor.
»Sean heißt er«, sagte eine Frauenstimme hinter ihm. »Das ist Maireads Sohn.«
Frank sah über seine Schulter zurück, bemerkte ein bildschönes Mädchen mit ebenfalls lockigem schwarzem Haar, das ihn aus schmalen blauen Augen ansah.
»Bist du hier der Vormann?«
Frank schüttelte den Kopf.
Wallace stand auf. »Der Vormann ist schon weg«, sagte er in verächtlichem Tonfall.
»Vielleicht holt er Hilfe«, fuhr Frank unsicher dazwischen.
»Hilfe?« Wallace schüttelte den Kopf. »Der sucht Ersatz für den Kran. Den kümmert es doch nicht, wer von uns hier zu Tode kommt. Und jetzt hebt den Balken weg und schließt dem armen Kerl die Augen. Der hat es auch hinter sich.«
Mitten in der Nacht fuhr Frank trotz aller Erschöpfung, die ihm am Ende eines jeden schweren Arbeitstages in den Knochen steckte, zum ersten Mal seit Langem wieder aus dem Schlaf. Aber er hatte nicht von dem Unfall geträumt, dessen Zeuge er geworden war. Er hatte von Mina geträumt. Sie brauchte seine Hilfe – das spürte er ganz deutlich.
Siebtes Kapitel
Man sagte Olga oft, dass sie es eigentlich gut getroffen habe. Mit ihren hellblonden Haaren und dem fein geschnittenen Gesicht war sie begehrt. Sie hatte ihre Dienste im Bordell nur selten versehen müssen. Zumeist war sie von den reicheren Bewohnern Rosarios und dessen Umgebung auf Empfänge eingeladen worden, als Begleiterin auf fröhliche Fiestas oder auf eine Bootsfahrt, wie eben die, auf der sie sich gerade befand. Sie hatte Abende in Prunkgemächern zugebracht, in Salons mit brennend roten Draperien und kostbaren französischen Möbeln unter dem strengen Blick der Ahnen, deren Porträts an den Wänden hingen. Häufig musste sie nur das Schmuckstück geben, lächeln, schön aussehen, nicht viel reden.
Olga hatte sich an den Bootsrand gesetzt und sah zu einer der Inseln im Fluss hinüber. Es war ein wunderbarer Anblick: Pfirsichbäume mit Früchten von zartem Rosa, Orangenbäume mit ihrem immergrünen Laub, deren pralle Früchte die Hände einluden, sie zu pflücken, die langen Trauben des roten Ceibo, die sich mit dem leichten Laub der Bambuspflanzen vermischten, und inmitten dieser Pracht eine elegante Palme, die das bunte Bild mit der Üppigkeit ihres Wuchses vervollständigte. Freude bereiteten ihr auch die Spazierritte durch den herrlichen Algarrobo-Wald, besonders im Oktober, wenn hierzulande Frühling war. Die meisten Bäume bekamen dann frisches Grün. Die Obstbäume waren mit Blüten bedeckt, das weite Land verwandelte sich durch blaue und rote Verbenen und gelbes Fingerkraut in einen farbigen Teppich, Akazien und Mimosen entfalteten langsam ihre Blätter mit der aufgehenden Sonne.
Was Olga bekümmerte, war, dass sie einen solchen Anblick nicht mit dem teilen konnte, den sie immer noch liebte – ihrem Ehemann.
Ob ich Arthur je wiedersehen werde?
O ja, sie hatte gelernt zu überleben, aber es war doch nicht mehr als das: Sie überlebte.
Gab es eine Möglichkeit, ihn wiederzufinden? Sie hatte so oft darüber nachgedacht, aber es wollte ihr keine Lösung einfallen. Immerhin, ein paar der Mädchen würden bald wieder mit ihrer »Mutter« und einem großen Ochsenkarren zu einer Reise über die Pampa aufbrechen. Sie würden weit herumkommen, viele Menschen treffen, vielleicht auch jemanden, der Arthur kannte. Olga wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Anfangs hatte sie sich schwach gefühlt, aber die harten Jahre hatten sie auch gestärkt. Irgendwann würde eines der Mädchen mit guten Nachrichten zurückkehren.
»Wir halten die Augen offen«, hatten sie Olga versprochen, »wir halten die Augen offen. Man weiß ja nie …«
Achtes Kapitel
Marlena seufzte ergeben.
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