Die Lagune Der Flamingos
das war nun so lange her. Er war ein erwachsener Mensch. Er musste jetzt verstehen, warum Monica ihm diesen Zettel zugesteckt hatte. Etwas ziellos glitten Eduards Augen über die Reihen von Namen, doch nichts wollte ihm auffallen, bis sein Blick plötzlich auf eine Grabplatte ganz in der Nähe von Elias’ fiel. Noah, Elias’ Bruder, war dort beerdigt worden, kaum sechs Monate nach den Ereignissen auf La Dulce. Noah war damals auf seiner Seite gewesen. Unwillkürlich fröstelte Eduard.
War es das, was Monica ihm sagen wollte – dass alle, die damals an seiner Seite gewesen waren, tot waren?
Alle bis auf Lorenz?
Neuntes Kapitel
Rahel Goldberg saß nun schon seit gut einer Stunde bei Rabbi Feidman, um Verschiedenes mit ihm zu besprechen. Sie kannten einander, seit sie beide vor so vielen Jahren in Buenos Aires eingetroffen waren. Damals sind wir allerdings jünger gewesen, fuhr es Rahel durch den Kopf, wir fühlten uns unbesiegbar und hatten große Träume.
Sie lächelte milde. Rabbi Feidman war der Initiator der Fürsorgearbeit, der sich Rahel und Jenny seit geraumer Zeit widmeten. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten hatte Jenny sich an diesem Tag jedoch nicht zu ihnen gesellt. Seit John zurückgekehrt war, bemerkte Rahel eine deutliche Veränderung an ihrer Ziehtochter. Jenny war anzumerken, wie sehr sie mittlerweile an Sinn und Zweck wohltätiger Arbeit zweifelte. Ihre Wut war wieder greifbarer geworden, so wie damals als junges Mädchen, als sie sich so oft mit Herschel, Rahels verstorbenem Ehemann, gestritten hatte. Rahel konnte sehen, wie wütend es sie machte, nichts gegen diesen Missbrauch der Frauen tun zu können.
Rahel streifte mit den Fingerspitzen über ihren langen dunklen Rock und zupfte dann ein Fädchen von der dazu passenden dunklen Jacke. Eben hatte Feidmann ihr gesagt, dass sich inzwischen nicht nur die Franzosen, sondern auch die Ungarn einen zweifelhaften Ruf als Zuhälter und Menschenschmuggler erarbeitet hatten. Die jüdischen Zuhälter wurden zwar offiziell von der jüdischen Gemeinde geschnitten, doch niemand schränkte sie in ihrer Arbeit ein. Auch Rabbi Feidman hatte bisher nur wenige entschlossene Unterstützer für seinen Kampf gefunden. Viele hatten Angst davor, mit dem schmutzigen Geschäft der Prostitution in Verbindung gebracht zu werden. Jetzt beugte er sich vor und schenkte Rahel Tee nach.
Rahel nahm die Tasse mit einem Lächeln entgegen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie in Feidmans Gegenwart erstmals davon gehört hatte, dass man Buenos Aires in bestimmten Kreisen die »Stadt der verschwundenen Frauen« nannte. In Buenos Aires, so erzählte man sich in Europa, würden europäische Jungfrauen gezwungen, ihre Körper zu verkaufen. Arme Frauen, darunter auch viele Jüdinnen, würden dazu von freundlichen Fremden mit falschen Heiratsversprechen aus der Heimat fortgelockt. Rahel hatte in der Arbeit mit diesen Frauen eine Möglichkeit gefunden, ihrer Trauer über ihren zehn Jahre zuvor am Gelbfieber verstorbenen Mann zu entkommen. Trotzdem rief die Arbeit immer wieder ein Gefühl tiefer Hilflosigkeit in ihr hervor.
»Aber warum verkaufen sie sich?«, brach es wieder einmal aus ihr heraus. »Warum kommen diese Frauen nur hierher, in diese Hölle?« Sie schaute Rabbi Feidmann fragend an.
Der schüttelte den Kopf. »Sie wissen, warum sie es tun, Rahel, Sie wissen es schon lange. Ihnen haben sie doch von dem Elend erzählt, aus dem sie gekommen sind. Für die jungen Frauen, liebe Rahel, ist das hier bei Weitem nicht das Schlimmste. Nein, dort, wo sie herkommen, konnten sie kaum überleben. Wer dort gelebt hat, den kann das hier nicht schrecken. Seien Sie sich gewiss, Sie tun ihnen viel Gutes.«
Rahel unterdrückte einen Seufzer. Mit einem Mal tauchte wieder Jenny vor ihrem inneren Auge auf. Eine Jenny, die energisch auf und ab lief, wie sie es meist tat, wenn sie wütend war. Jenny hatte Wut stets durch Bewegung abbauen müssen. Rahel atmete tief durch.
»John Hofer sagt …«, setzte sie leise an.
»Wer?«
Rabbi Feidmann beugte sich näher zu ihr hin, offenbar, um besser hören zu können. Rahel verlor sich vorübergehend erneut in Gedanken. Ob John Recht hatte? Ob die Fürsorge, die sie diesen Frauen angedeihen ließen, wirklich gar nichts an ihrer Situation änderte, sie sogar noch verschlimmerte? Aber sie hatten doch so viele Frauen und Mädchen aus den Bordellen und von der Straße geholt. Sie hatten ihnen Arbeitsplätze verschafft, in Lenchens Schneiderei, in
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