Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
sie wollte nicht, dass ihr auch nur die kleinste Regung seines Mienenspiels entging. Der Ausdruck in seinen Augen schwankte zwischen Wachsamkeit und Unwillen. Sofort war ihr klar, dass er etwas vor ihr zu verbergen hatte. Dasselbe hatte sie schon damals gespürt, als Simon wegen Matteos Erkrankung bei ihnen gewesen war. Laura hatte gemeint, sie hätten es sich wegen der nervlichen Belastung vielleicht nur eingebildet, doch in diesem Augenblick bestand kein Zweifel, dass ihr Eindruck durchaus zutreffend war.
»Erinnert Ihr Euch noch an meine Mutter?«, fragte Mansuetta.
»Natürlich«, sagte er. Es klang reserviert. Sie sah ihm an, dass er lieber gelogen hätte, aber das war nicht seine Art. Sein Charakter war so sauber wie der Hauch von Essig und Seife, der seine schmale, leicht gebückte Gestalt umschwebte. »Ich erinnere mich sehr gut an Monna Crestina.«
»Dann müsst Ihr mir die Wahrheit über ihr Verschwinden sagen. Ich weiß genau, dass Ihr die näheren Umstände kennt. Wir haben schon damals darüber gesprochen, als unser kleiner Matteo an Mumps erkrankt war und Ihr deswegen bei uns wart. Ihr müsst Euch noch daran erinnern. Ihr wolltet nicht darüber sprechen. Aber Ihr wisst, wo meine Mutter ist, oder?«
Das war ein Schuss ins Blaue, doch sie erkannte am Ausdruck seines Gesichts sofort, dass sie richtiglag. Falls sie jedoch erwartet hatte, dass er nun notgedrungen mit der Wahrheit herausrückte, sah sie sich getäuscht.
Ein wenig steif meinte er: »Ich kann Euch darüber nichts sagen.«
»Ihr lügt!«, entfuhr es ihr. Sie biss sich auf die Lippen, weil sie es so unverblümt geäußert hatte – und zudem so laut, dass einige der Anwesenden die Hälse reckten, um mehr von der Unterhaltung aufzuschnappen.
»Ich lüge keineswegs«, versetzte Simon. »Ich kann es Euch lediglich nicht sagen.«
»Aber warum nicht!? Ich merke doch, dass Ihr etwas wisst!«
»Auf mir liegt eine Schweigepflicht. Als Arzt und als Mensch bin ich daran gebunden.«
»Hat meine Mutter Euch diese Pflicht auferlegt?«
»Ganz recht. Sie selbst – und außerdem mein Beruf. Ich habe einen Eid geleistet, an den ich mich halten muss. Von mir könnt Ihr nichts erfahren.«
»Dann sagt mir etwas über Angelica Querini«, verlangte Mansuetta. »Die Frau des Prokurators Marcello Querini. Es gibt ein Geheimnis, das unsere Familien verbindet, ihre und meine.« Sie starrte den Arzt an. »Sie lebt noch, nicht wahr? Sie ist gar nicht tot, obwohl alle sagen, sie wäre es. Aber in Wahrheit ist sie nur fortgegangen. Genau wie meine Mutter. Ist es so? Sind sie gemeinsam weggegangen? Und wenn ja, wohin? Wo sind sie, Dottore?« Sie hatte ihre Stimme abermals erhoben, doch diesmal war es ihr nicht peinlich. Sie wollte nichts weiter, als die Wahrheit in Erfahrung bringen.
Simon seufzte, doch seine Miene drückte Unbeugsamkeit aus. »Von mir könnt Ihr darüber nichts erfahren.« Es war unschwer zu erkennen, dass er ihre Fragen nicht beantworten würde.
Sie wollte erneut auffahren, doch dann ließ sie seinen letzten Satz in sich nachhallen. »Nicht von Euch«, sagte sie leise. »Von wem dann? Zu wem soll ich gehen? Wen soll ich fragen?«
»Ihr habt doch von zwei Familien gesprochen. Von Eurer und der anderen.«
»Die Querinis. Meint Ihr die? Soll ich zu denen gehen? Zu Marcello Querini, dem Prokurator? Oder zu seinem Sohn, dem charmanten, blonden Zuane, der immer noch untröstlich über Lauras Heirat ist? Oder vielleicht doch lieber zu Zuanes Tante Eugenia, die kürzlich bei uns war und mich so seltsam beiläufig hat wissen lassen, dass ihre Schwägerin Angelica noch lebt, aber krank ist ...?« Mansuetta sprach wie zu sich selbst, als wolle sie alle Möglichkeiten abwägen. Simon hatte sich abgewandt und ging weiter zum nächsten Kranken, dem Mann, der von der Lues gezeichnet war. Sanft half er ihm vom Schemel auf und führte ihn weg.
»Könnt Ihr mir nicht mehr darüber sagen?«, fragte Mansuetta, als er an ihr vorbeikam.
Er gab keine Antwort.
»So wartet doch!«, rief Mansuetta ihm nach. »Wen soll ich fragen, Dottore?«
»Das müsst Ihr selbst entscheiden.«
Sie wollte aufbegehren und ihm weitere Fragen stellen, doch er war bereits mit dem Patienten in einem der benachbarten Räume verschwunden und hatte die Tür hinter sich zugezogen.
Carlo zögerte keinen Moment, der Botschaft Valerias zu folgen. Sie hatte mehrfach nach ihm schicken lassen in den letzten Monaten, doch an diesem Abend war es das erste Mal nach langer Zeit, dass er ihrem
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