Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
nah zu sein. Sein Gesicht erstand vor ihr, das stets zögerlich wirkende Lächeln mit der kleinen Zahnlücke, der Ausdruck von leiser Traurigkeit in seinen Augen. Ihr war, als müsse sie nur die Hand ausstrecken, um ihn berühren zu können, so real war das Bild mit einem Mal. Sie holte Luft, um den bestürzenden Eindruck zu vertreiben, doch das Gefühl des Verlustes blieb. Der Schmerz hatte nachgelassen, aber Isacco war noch nicht so lange tot, dass sie sein Fehlen einfach so hätte übergehen können. Es tat ihr weh, dass sie nicht an seinem Grab beten konnte. Er lag auf dem Friedhof der Juden in Padua, bestattet nach dem Ritus seines Volkes. Bei seiner Beisetzung war sie zugegen gewesen, stellvertretend für seine Hinterbliebenen, auch für Laura, die in jenen Tagen wegen ihrer Fehlgeburt noch das Bett hatte hüten müssen. Sie hatte geweint, ebenso wie während der Bestattung Veronicas, die wie Isacco in Padua ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte. Mochte auch das Leben weitergehen – die Erinnerung an den Verlust ihrer lieben Gefährten war immer noch schmerzhaft.
Das Spital war von schlichter Bauweise, ein unprätentiöser Klotz ohne schmückendes Beiwerk, eher praktisch als ansehnlich. Durch die Pforte gelangte man über einen Vorplatz in eine offene Säulenhalle, wo mehrere Kranke auf Schemeln saßen und warteten. Einige andere waren zu schwach zum Sitzen; man hatte für sie Strohsäcke bereitgelegt, auf denen sie lagerten. Eine Frau in mittleren Jahren krümmte sich vor Schmerzen. Sie wimmerte und wiegte ihren Oberkörper auf und ab, als könne sie so ihre Qualen lindern.
Eine Nonne kam durch eine der offenen Türen, die in den hinteren Bereich des Spitals führten, in die Vorhalle geeilt und forderte die Frau auf, ihr zu folgen.
»Bitte«, sagte Mansuetta höflich zu der Nonne. »Ich möchte zu Dottore Simon, dem jüdischen Arzt. Man sagte mir, dass er hier arbeitet.«
Die Nonne blieb stehen und musterte sie abwägend. »Ihr seht nicht krank aus. Geht es um einen Hausbesuch?«
»Es geht um meine Mutter«, sagte Mansuetta wahrheitsgemäß. »Ihr Name ist Crestina Ferro.«
»Ist Eure Mutter krank? Was fehlt ihr denn?«
»Das kann nur Messèr Simon mir erklären. Deshalb muss ich ihn dringend sprechen. Sehr dringend.«
»Ich sage ihm Bescheid«, meinte die Nonne im Weitergehen, während sie die jammernde Frau stützte. »Es kann aber eine Weile dauern, er hat viel zu tun.«
»Ich warte.« Mansuetta ließ sich auf einem freien Schemel nieder und verschränkte die Hände. Sie achtete nicht auf die teils neugierigen, teils mitleidigen Blicke, die sie trafen, denn sie hatte gelernt, ihnen auszuweichen. Armes verkrüppeltes Weib, schienen diese Blicke zu sagen. Bist du so geboren oder durch eine schreckliche Krankheit so geworden? Hoffst du etwa auf die Hilfe des berühmten Arztes? Glaubst du, er kann dich heilen und dir zu einer normalen weiblichen Gestalt verhelfen, dein schiefes Auge zurechtrücken, deine verzogene Schulter und deine verdrehte Hüfte richten?
Aus einem Impuls heraus straffte sie sich, hielt sich die Brille vor die Augen und schaute auf, mitten in das Gesicht des nächstsitzenden Mannes. Tatsächlich hatte er sie verstohlen beobachtet, und jetzt, da sie ihn ansah, wandte er seine Blicke hastig zur Seite. Sie erschrak, als sie erkannte, dass er wohl kaum das gedacht hatte, was sie unterstellt hatte. Dafür war er selbst viel zu sehr entstellt. Der Nasenknorpel war bis zur Unkenntlichkeit weggefault, der zahnlose Mund klaffte offen unter dem geschwürigen Zerfall des Fleisches. Die Menschen um ihn herum hielten sicheren Abstand zu ihm, obwohl die Krankheit nach allem, was man wusste, nur bei engstem körperlichen Kontakt ansteckend war: bei der körperlichen Liebe. Die Folgen der Lues waren ebenso tückisch wie unberechenbar. Während die einen rasch starben, mochten die anderen noch viele Jahre lang leben, geplagt von heftigen Schüben dieser Seuche, die mit Verblödung einhergehen konnte oder auch mit langsam faulenden Schwären, je nachdem, wie es für den jeweiligen Kranken im Plan des Schöpfers stand. Manche wiederum schienen wie von Zauberhand folgenlos zu genesen, nur um viele Jahre später an einem schrecklichen Rückfall zugrunde zu gehen.
»Madonna?« Der jüdische Arzt stand vor ihr und schaute auf sie herunter. »Was führt Euch zu mir?«
Sie stand auf und neigte grüßend den Kopf. »Dottore.« Durch die Gläser ihrer Scherenbrille betrachtete sie Simons Gesicht, denn
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