Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
auch bei der Ernte musste es schnell gehen. Gleich nach dem Pflücken mussten die Pflanzen in ihre Bestandteile zerlegt und fachmännisch zum Trocknen oder Pressen vorbereitet werden. Lagen sie zu lange in Säcken oder Körben, konnten sie zerquetscht werden oder faulen, und dann taugten sie nicht mehr für die Heilbebehandlung.
Sauberkeit war mindestens ebenso wichtig. Die Pflanzen mussten von Schmutz und Staub befreit werden, manchmal auch von Ungeziefer, das sich nur zu rasch in Gestalt von Schnecken, Larven oder Läusen in den Stängeln und unter den Blättern einnistete. Mansuetta wusste, dass es nicht alle Apotheker damit so genau hielten, doch ihre Mutter war in diesem Punkt eigen.
Die Sorgfalt schließlich war womöglich das Wichtigste überhaupt. Es durften immer nur die Teile zubereitet werden, denen die heilende Wirkung zugeschrieben wurde. Stiele waren von Wurzeln zu trennen, Blätter von Blüten. Manche Kräuter mussten lange trocknen, andere wiederum sogleich nach der Ernte innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne ausgekocht oder ausgepresst werden. Vor allem aber zählte die exakte Mengenbestimmung bei der Zubereitung eines Medikaments, sei es nun beim Auswiegen der Kräuter oder – erst recht – beim Untermischen alchimistischer Zutaten. Hier war Crestina von geradezu unerbittlicher Korrektheit. Niemals arbeitete sie ohne Waage oder Messlöffel, gleichviel, ob sie eine Arznei selbst oder auf die Rezeptur eines Arztes hin vorbereitete.
Besonders wenn es um ärztliche Verschreibungen ging, war zusätzliche Vorsicht geboten, denn so mancher pharmazeutisch schlecht vorgebildete Medicus stellte die Ingredienzien auf dem Papier recht sorglos zusammen. Ein wenig hiervon, einige Handvoll davon, eine ordentliche Menge von jenem, und zu guter Letzt womöglich noch eine zureichende Dosis zur Abrundung.
Mansuetta ging in die Küche, wo ihre Mutter am Tisch saß und schrieb. Crestina liebte die zauberhafte Poesie Vergils über Gärten und Ländlichkeit; sie hatte bereits in ihrer Jugend seine Verse in einer Klosterbibliothek abgeschrieben. Im Laufe der Jahre war die Tinte ihrer Aufzeichnungen verblasst, und so hatte sie sich vor einiger Zeit daran gemacht, alles erneut niederzulegen, bevor es völlig von dem Papier und aus ihrer Erinnerung verschwinden konnte. Außerdem hatte sie vor kurzem ein Buch über die Schriften eines Abtes entdeckt, der vor etwa siebenhundert Jahren gelebt hatte. Crestina war von der Fülle seiner botanischen Kenntnisse begeistert und hatte sogleich begonnen, seine Gedichte zu kopieren.
Mansuetta trat hinter ihre Mutter und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Machst du dir wieder Arbeit?«, fragte sie.
Crestina blickte lächelnd auf. »Für mich ist das keine Arbeit, sondern ein Vergnügen. Ich schreibe es nur auf, weil es mir Freude macht.«
Das stimmte nur eingeschränkt, wie Mansuetta wusste. Crestina las gerne in ihren Aufzeichnungen, aber es strengte sie an, die Feder zu führen; ihre Finger wurden zunehmend gichtig. Dennoch würde sie nicht darauf verzichten, ihre geliebten Verse zu Papier zu bringen. Bücher waren trotz der rasanten Ausbreitung, die der Buchdruck in den letzten Jahren erfahren hatte, immer noch teuer. Crestina hätte sich zwar leicht einen der verzierten und gebundenen Bände leisten können, aber das war eine Geldausgabe, vor der sie zurückscheute. Mansuetta kannte den Grund dafür, ohne dass sie je darüber gesprochen hätten. Crestina hielt die Ersparnisse zusammen, um Mansuettas Auskommen für den Fall zu sichern, dass sie selbst einmal nicht mehr da wäre.
Wie immer versuchte Mansuetta, sich über das nagende Minderwertigkeitsgefühl hinwegzusetzen, das sie bei solchen Gedanken überkam. Nicht dass sie sich jemals wirklich mit ihrem Aussehen abgefunden hätte; sie würde bis zu ihrem Ende mit ihrem deformierten Gesicht hadern. Doch als schlimmer und bedrückender empfand sie ihr schlechtes Augenlicht. Sie sah gerade so viel, um sich halbwegs zurechtzufinden. Hier im Haus ließen Fenster und Türen ausreichend Licht herein, um vertraute Umrisse und die Silhouetten von Menschen zu erhellen. Sie erkannte Formen und Gestalten gut genug, um sie richtig einordnen zu können. Menschen, Tiere, Boote, Karren, Fässer – all das konnte sie ohne Schwierigkeiten auseinanderhalten, vorausgesetzt, sie kam bis auf etwa zehn Schritte heran. Sie sah das Blau des Himmels, das satte Grün der Pflanzen, die Purpurbespannung am Bucintoro und das goldene Licht auf
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