Die Landkarte der Finsternis
unserer Länder sicher bald reagieren werden. Ich bedanke mich und spaziere weiter, um mir ein wenig die Beine zu vertreten. So lange, bis ich Orfane in die Arme laufe, der mich ohne Wenn und Aber zur Krankenstation schleppt, um mich durchzuchecken und meine Blasen und Furunkel zu verarzten. Als ich aus dem Behandlungsraum komme, stoÃe ich auf Elena, die sich gerade neben einem Planwagen die Schnürsenkel bindet. Sie wirkt frisch und munter und lächelt mich strahlend an, während sie sich aufrichtet und mich von weitem fragt, ob ich gut geschlafen habe. Als hätte man mich in Narkose versetzt, antworte ich ihr. Gurrend wirft sie den Kopf in den Nacken und erklärt lachend, es hätte einen Rettungstaucher gebraucht, um sie aus dem Tiefschlaf zu holen. Umwerfend sieht sie aus mit dem offenen Haar, das ihr ungebändigt bis in die Taille fällt, und dem goldenen Bronzeteint ihres zarten andalusischen Gesichts. Sie trägt verwaschene Jeans, eine Bluse, in deren offenem Ausschnitt ihr Anhänger baumelt, und dazu knallgelbe Espandrillos.
»Heute ist mein freier Tag«, sagt sie, wie um sich zu entschuldigen. »Und da es hier sonst keine Freizeitmöglichkeiten gibt, kleide ich mich halt leger.«
Jessica hätte niemals Jeans auf ihrer Haut geduldet und noch weniger Leinenschuhe an den FüÃen. Jessica war die Eleganz in Person, und zwar in ihrer strengsten Form, tadelloser Schnitt, Kostüme nach MaÃ, ohne eine Falte oder einen Faden zu viel. Sie verbrachte mehr Zeit damit, in einer Luxusboutique ein Kleid anzuprobieren, als ein Chirurg mit der Operation eines Schwerverletzten. Wie oft hatte ich ihr nicht schon vorgeschlagen, sich weniger streng zu kleiden, ohne Erfolg. Bei diesem Thema verstand sie keinen SpaÃ, weder zu Hause noch in der Stadt. ZugegebenermaÃen passte ihr Aufzug immer hinreiÃend zu ihrem durchscheinenden Teint und verlieh ihrem platinblonden Haar einen sonnigen Glanz. Jessica, mein Gott! Jessica ⦠Als Kind habe ich auf dem Heimweg von der Schule immer einen groÃen Umweg gemacht, auf dem ich an einer prachtvollen Villa mit traumhaftem Garten vorbeikam. Dort verlangsamte der kleine Junge in kurzen Hosen mit seinem schweren Ranzen auf dem Rücken, der ich war, immer den Schritt und bewunderte heimlich das Anwesen, dessen Anblick ihn für die öde Tristesse seines Vororts entschädigte. Ich liebte den seidenmatten Glanz des Schieferdachs, die kunstvolle Fassade, die Marmorsäulen rechts und links der blumengeschmückten Freitreppe und darüber die monumentale Eichenholztür. Ich fragte mich, wer die Bewohner der Villa waren, wie sie inmitten all des Luxus und Wohlstands wohl lebten und ob sie im Schlaf, wenn die Lichter ausgingen und die Nacht hereinbrach, wohl ebenso glücklich waren wie inmitten all des Komforts, der sie bei Tag umgab. Dann sah ich eines Tages, als ich wieder auf dem Nachhauseweg war, einen Krankenwagen vor dem Eingang der märchenhaften Villa stehen und auf dem Bürgersteig Nachbarn, die zuschauten, wie die Sanitäter eine Leiche abtransportierten. Später erfuhr ich, dass die reiche alte Dame, die mutterseelenallein in dieser Traumvilla gewohnt hatte, schon Tage zuvor gestorben war, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre ⦠Beim Gedanken an Jessica kam mir spontan dieses prachtvolle Anwesen in den Sinn. Hinter der Fassade meines Eheglücks war längst etwas faul gewesen, ich hatte es nur nicht bemerkt â¦
»Alles in Ordnung?«, fragt mich Elena.
»Ãh, ja, sicher ⦠warum?«
»Ich weià nicht. Ich hatte gerade so ein Gefühl, als würde es dir nicht besonders gut gehen.«
Ich lächele sie an.
»Ich bin noch nicht so ganz wiederhergestellt.«
»Ach, das kommt schon noch.«
»Je schneller, desto besser.«
Sie mustert mich kritisch mit ärztlichem Blick, dann, wieder beruhigt, erklärt sie mir, dass jetzt Essenszeit sei, und schlägt mir vor, gemeinsam in die Kantine zu gehen. Aber vorher zückt sie geschwind ihre kleine Kamera und macht ein Foto von mir. Ohne mich zu fragen, ob mir das recht ist. Aber man könnte ihr ohnehin nichts abschlagen, dieser Elena, so unwiderstehlich, wie sie ist.
Die Kantine ist ein kleiner, schmaler Raum zwischen dem Küchentrakt und der Wäscherei. In einer Ecke sitzen vier Ãrzte und ein Seelsorger am Tisch und hören einem jungen Schwarzen mit Gipsverband zu, der Anekdoten zum Besten gibt, bei
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