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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Bier?«
    Â»Nein, danke … Deine Frau?«, frage ich und zeige auf das Porträt einer Schwarzen, das neben einem anderen Foto auf dem Schreibtisch steht, auf dem drei Farbige zusammen mit einem Weißen posieren.
    Mit strahlendem Lächeln berichtigt er mich:
    Â»Meine Mutter mit dreißig!«
    Ich betrachte eine Weile das Bild im Holzrahmen, auf dem die dunkelhäutige Frau sehr nachdenklich dreinblickt. Ihre Züge sind anmutig, ihre Haltung hoheitsvoll. Von Bruno weiß ich, dass die Afrikaner ihren Müttern eine fast schon religiöse Verehrung entgegenbringen, weil sie fest daran glauben, dass ohne den Segen der Mutter kein Gebet erhört wird.
    Â»Sie ist sehr schön«, sage ich.
    Â»Logisch, mein Vater war der Dorfchef.«
    Er nimmt einen Schluck aus der Limoflasche, stellt sie auf dem Nachttisch ab und dreht die Musik ein wenig leiser.
    Â»Nina Simone, Don’t Let Me Be Misunderstood … Mein ganz persönliches Beruhigungsmittel. Ich habe auch Marvin Gaye da. Wenn Marvin seine Stimme von der Leine lässt, dann verfliegen die grauen Wolken in meinem Kopf, dann flutet der Sommer meine Gedanken …«
    Â»Ich liebe diesen Sänger«, sage ich. »Er hat magische Kräfte.«
    Â»So ist es!«
    Die Bank knarrt unter seinem Athletenkörper. Er streckt den Arm nach dem Foto mit den vier Männern aus, die in einer überfüllten, völlig verräucherten Bar stehen. In seiner Handbewegung liegt eine große Zärtlichkeit. Er zeigt auf einen stämmigen Schwarzen mit der Mütze eines Hafenarbeiters, der einen viel zu großen Mantel trägt und sichtlich entzückt ist, mit den drei anderen auf einem Foto zu posieren.
    Â»Das da ist mein Vater … Der Weiße hier ist Joe Messina, der da ist Robert White, und das hier Eddie Willis … Die Geschichte dieses Fotos ist einfach unglaublich, der reinste Abenteuerroman.« Er stellt das Bild zurück auf den Tisch. »Das Musikhören habe ich von meinem Vater gelernt. Als verwöhnter Dorfchef wünschte er sich von seinen Untertanen immerzu Schallplatten zum Geburtstag. Und immer, wenn irgendwo ein neuer Hit aufkam, feierte mein Vater Geburtstag. Er liebte die afroamerikanische Musik. Unser Haus war bis obenhin voll mit Otis Redding, Melvis, Louis Armstrong, Jimi Hendrix, Aretha Franklin, Dee Dee Bridgewater, Abbey Lincoln … Überall lagen Plattenstapel herum, über die man hinwegsteigen musste. Und in diesem heillosen Durcheinander, das meiner Mutter den letzten Nerv raubte, war mein Vater der Einzige, der durchblickte. Er wusste immer ganz genau, wo sich diese oder jene Platte befand. Und er war ein ganz großer Fan der Funk Brothers. Eines Morgens kletterte er von seinem Rosenholzthron, legte seinen Straußenfedernschmuck und sein Zepter aus Baobabholz beiseite und verschwand. Man vermutete eine Entführung oder gar Mord, aber man fand weder seine Leiche noch irgendeine Spur von ihm. Er hatte sich in Luft aufgelöst, einfach so«, fügt er fingerschnipsend hinzu. »Und eines Abends, drei Jahre später, war er wieder da, zurück im Dorf. Ohne Vorankündigung … Er hatte sich in die USA aufgemacht, auf ›Pilgerreise‹, nach Detroit. Er hat viele Länder ohne einen Cent in der Tasche und ohne Papiere durchquert, wie ein Weltmeister gejobbt, um mal ein Bahn- oder Busticket zu bezahlen, monatelang in den Häfen herumgelungert, um zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Kahn zu finden, und es tatsächlich geschafft, sich illegal nach Detroit durchzuschlagen. Und warum das Ganze? Um sich zusammen mit seinen Idolen fotografieren zu lassen, mit Joe Messina, Robert White und Eddie Willis. Bloß, um sich mit diesen drei Kerlen fotografieren zu lassen. Nicht mehr und nicht weniger. Kaum hatte er seine Trophäe im Kasten, hat er sich auf den Heimweg gemacht, gleich am nächsten Tag.«
    Â»Du übertreibst …«
    Â»Ich schwör’s dir, das ist die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, hoch und heilig schwör ich dir das«, gluckst er und hebt die Hand zum Schwur. »Mein Vater sagte immer: ›Keine Nation kann ohne ihre Mythen überleben und keine Jugend ohne ihre Idole aufblühen.‹ Wenn diese beiden Dinge keine Orientierung bieten, bricht alles auseinander. Die afrikanischen Regierungen wollen das nicht einsehen. Lieber katapultieren sie ihre Völker in die Steinzeit zurück.«
    Ich

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