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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Freudentanz wie ein Waisenkind, das seine Familie wiedergefunden hat.
    Der Campleiter schlägt vor, zusammen ins »Kasino« zu gehen, um den Freudentag des Franzosen gebührend zu feiern. Als wir aus dem Büro kommen, sehen wir zwei Sanitäter in Richtung Hauptportal über den Hof laufen. Kinder stehen vor den Zelten und zeigen mit dem Finger auf irgendetwas. Ich halte mir die Hand über die Augen, weil die Sonne stark blendet, und erkenne in der Ferne eine Gestalt, die mit einer Last auf dem Rücken dem Camp entgegenwankt. Christophe Pfer, der gleich begriffen hat, was da los ist, beauftragt einen Sekretär, sofort die Krankenstation zu benachrichtigen. Wir lassen die Kantine sausen und laufen hinter den beiden Sanitätern her. Doch die Gestalt bleibt keineswegs stehen, als sie sieht, dass Hilfe naht, sondern stolpert eisern weiter auf das Camp zu. Die beiden Sanitäter versuchen, ihr ihre Bürde abzunehmen, doch sie weigert sich beharrlich und bewegt sich stur wie ein Roboter immer geradeaus. Bruno identifiziert den Mann als Erster: Es ist der junge Karrenzieher, den wir mit seiner Mutter in der Wüste zurückgelassen haben …! Und jetzt ist er hier, vor uns, schwankend und wankend, aber aufrecht, und mit seiner Mutter auf dem Rücken. Taumelnd und hohläugig erreicht er den Eingang zum Camp, immer noch taub gegenüber dem Zureden der Sanitäter, die ihm die alte Frau abnehmen wollen. Man könnte fast meinen, er will einen Rekord aufstellen und nur keine verfrühte Hilfe annehmen, bevor nicht der letzte Schritt getan und dieser schier unglaubliche Gang vollendet ist. Die Kinder, die ihn längst wiedererkannt haben, rennen ungläubig auf ihn zu. Aber sie schreien nicht, kommen ihm auch nicht zu nahe, eskortieren ihn lediglich bis zur Krankenstation, wo ihn ein Arzt mit zwei seiner Assistenten in Empfang nimmt. Die alte Frau wird sofort auf eine Trage gelegt und ins Behandlungszimmer gebracht.
    Mit weißen Lippen und verdrehten Augen lässt der wundersame Sohn sich gegen eine Mauer fallen, völlig abgekämpft, mit baumelnden Armen, stechenden Wadenkrämpfen, schweißnassem, dampfendem Rücken; er ist halbtot, aber beherrscht, unglaublich beherrscht, geradezu heldenhaft beherrscht.
    Bruno dreht sich zu mir um und bemerkt stolzgeschwellt, im Hochgefühl seiner Revanche:
    Â»Siehst du, Kurt, das ist das echte Afrika!«
    2.
    Am Nachmittag bittet der Lagerleiter Bruno und mich ins Büro, um uns mitzuteilen, dass sich für den nächsten Tag Vertreter unserer Botschaften angesagt haben. Journalisten seien vermutlich auch mit von der Partie und vielleicht sogar sudanesische Militärs. Er schildert uns, wie solche Begegnungen seiner Erfahrung nach ablaufen, erwähnt die Möglichkeit eines emotionalen Schocks, der mitunter böse Folgen hat. Bruno beschränkt sich darauf zu nicken. Als der Leiter mit seinen Ausführungen fertig ist, stellt Bruno klar, dass er auf keinen Fall zurück nach Bordeaux will, sondern nach Dschibuti. Christophe Pfer verspricht zu sehen, was er tun kann, und entlässt uns.
    Bruno führt mich ins Zelt zu einem bettlägerigen Greis. Er ist nicht wirklich krank, kann sich nur vor Altersschwäche nicht mehr auf den Beinen halten. Seine Physiognomie ist verschwommen, seine Gesten sparsam, nur ein Lächeln, ein erstauntes Lächeln, steht klar in seinem Gesicht. Bruno erklärt mir, dass es sich um einen Marabut-Krieger handelt, einen begnadeten Wassersucher, der imstande ist, meilenweit im Umkreis Grundwasser zu erspüren und ganz ohne Pendel oder Wünschelrute treffsicher zu orten. Der Alte, so Bruno weiter, stammt aus Äthiopien und war einst eine der emblematischen Figuren des Horns von Afrika. Sein Ruf erstreckte sich von den Beduinen des Jemen bis zu den legendären Massai Kenias. Er galt als Anstifter und furchtloser Führer des bewaffneten Aufstands gegen die italienische Invasion im Jahr 1935 – Mussolini habe seinerzeit eine phänomenale Kopfprämie auf ihn ausgesetzt. Anfang der 1940er, nach der Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit, machte er Kaiser Haile Selassie das Leben schwer. Doch als der Kommunismus seinen Siegeszug über Äthiopien antrat und die Grundfesten der Nation erschütterte, verschwand der Alte für ein Jahrzehnt in den Verliesen des marxistisch-leninistischen Regimes, während der neue Diktator, Mengistu Haile Mariam, die einflussreichsten

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