Die Landkarte der Finsternis
lässt einen Moment der Stille auf der Zunge zergehen, dann legt sie von vorne los, in inspirierter Redseligkeit. Sie stellt mir einen groÃen Festsaal in Aussicht, eine Bücherei, vielleicht sogar ein Kino, einen traditionellen Markt auf dem Platz, Läden und Buden auf der StraÃe und noch viele andere Annehmlichkeiten mehr.
»Habt ihr zufällig auch einen Barbier hier in der Gegend, der mich von diesem Wildwuchs befreien könnte, der mein Gesicht überwuchert?«, frage ich sie.
»Aber natürlich, und zwar den besten, den es gibt.«
Zwanzig Minuten später sitze ich auf einem Schemel unter freiem Himmel, mit einem Handtuch um den Hals und Rasierschaum im Gesicht, der Rasierklinge und der Schere einer in ihrer Rolle als Gelegenheitsfriseurin brillierenden Lotta Pedersen ausgeliefert. Und während die skandinavische Frauenärztin mein ÃuÃeres aufpoliert, tollt ein Schwarm Kinder um uns Âherum, die sich vor Lachen kaum einkriegen können, dass da eine Frau einen Mann rasiert.
Nervös belagert Bruno den Verwaltungstrakt, mit einem vor Appretur glänzenden Turban um den Kopf. Er hat sich gewaschen, den Dreck abgeschrubbt, neue Freunde unter den Ladeninhabern gefunden â was die brandneuen afrikanischen Lederflipflops an seinen FüÃen und das frisch aus der Verpackung geholte Tuareggewand erklärt â, aber seinem Rasputinbart hat er kein Haar gekrümmt. Mit der Gebetskette, die um seinen Finger kreiselt, und seinen Augen, die mit Khol umrahmt sind, sieht er aus wie ein Scheich, der sich anschickt, den Volksmassen die Leviten zu lesen. In seinem verdrossenen Gesicht beben die Nasenflügel; Bruno ist alles andere als zufrieden. Mehrmals hat er versucht, eine Telefonverbindung nach Dschibuti zu bekommen, und jedes Mal brach die Leitung zusammen, sobald es am anderen Ende läutete. Bruno hat den Telefonisten im Verdacht, ihn bewusst daran zu hindern, mit der AuÃenwelt in Kontakt zu treten. Er hält es für durchaus denkbar, dass die Lagerleitung von der Regierung Order erhalten hat, nichts über unseren Aufenthaltsort verlautbaren zu lassen, wie anders solle man es sich sonst erklären, dass weder die französische noch die deutsche Botschaft auf das Fax reagiert hat, das ihnen in aller Frühe geschickt worden ist?
Christophe Pfer versichert, dass das Fax sehr wohl angekommen sei und der Mitarbeiter in Khartum gerade alles Nötige bei den zuständigen Behörden in die Wege leite.
Doch am nächsten Morgen gibt es noch immer keine Nachricht aus Khartum. Bruno und ich haben den ganzen Vormittag in der Verwaltung verbracht und wie hypnotisiert auf Telefon und Faxgerät gestarrt. Gegen Mittag endlich gelingt es der Zentrale, eine Telefonverbindung nach Dschibuti herzustellen, und Bruno bricht in Tränen aus, als er die Stimme seiner Lebensgefährtin am anderen Ende der Leitung vernimmt. Schallendes Gelächter mischt sich unter seine Tränen. Ich verstehe zwar nicht, was er auf Arabisch erzählt, aber es ist ganz klar, dass die Leitung vor lauter Emotion nur so vibriert. Bruno schneuzt sich in seinen Turban, schluckt, schneidet Grimassen, schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, springt aus seinem Sitz auf, stöÃt schrille Freudenschreie aus. Seine Lebensgefährtin holt der Reihe nach Verwandte, Nachbarn, den Ladenbesitzer von gegenüber, einen alten Freund und was weià ich wen noch alles an den Apparat. Und ich stelle mir all diese Leute vor, wie sie, von einer sagenhaften Mundpropaganda aufgescheucht, alles stehen und liegen lassen und dem Telefonhörer entgegenstürzen, um ihrer Freude darüber Ausdruck zu verleihen, dass ihr lieber Franzose noch von dieser Welt ist und dass sie es kaum erwarten können, ihn in Fleisch und Blut wiederzusehen. Das Gespräch dauert und dauert. Manchmal muss Bruno eine Weile warten, bis der nächste Gesprächspartner dran ist, den man vom anderen Ende der StraÃe hat holen lassen, oder eine alte Bekannte, die bettlägerig ist, aber dennoch um jeden Preis mit ihm reden möchte, und die man erst ihrem Lager entreiÃen und bis zum Telefon schleppen muss. Schweigen wechselt mit euphorischen Ausrufen, und von neuem mischen sich sprudelndes Lachen und Tränenfluss. Als er endlich auflegt, ist Bruno wie ausgewechselt. Er schwebt auf Wolken, seine Augen strahlen. Er umarmt mich, dann fliegt er Christophe Pfer an den Hals und vollführt einen
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