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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Mitglieder seines Stammes ermorden ließ oder ins Exil verbannte. Tief gesunken, verfolgt und gehetzt, verlor er sich zuletzt im Strom der Flüchtlinge und irrte durch die Lande, bis das Alter seine Kräfte aufzuzehren begann. Nun hat er hier im Camp eine Bleibe gefunden und wartet ­darauf zu sterben – so wie sie sterben, die Legenden, in jenen Ländern, ­deren Gedächtnis mit ihren Greisen erlischt. Ich frage mich, ­warum der französische Ethnologe mir das alles ­erzählt, und stelle fest, dass er gar keine Hintergedanken hat, sondern einfach nur stolz auf das Charisma der Seinen ist. Während Bruno redet, lässt mich der Alte nicht aus den Augen. Er muss weit über hundert Jahre alt sein und erinnert an einen Apachenhäuptling auf seinem mit Federn geschmückten Katafalk. Um den Hals trägt er ein Amulett, statt eines Armreifs eine Gebetskette aus Ambrakugeln. Ein Ring mit dem Konterfei einer prähistorischen Gottheit prangt, einer fetten Warze gleich, an seiner Hand. Bruno beteuert, das Schmuckstück habe einst dem ­Negus höchstpersönlich gehört; dieser habe es dem Marabut-­Krieger als Unterpfand guten Einvernehmens überlassen. Der Alte spricht stockend; wie abgehackt dringen die Worte aus seinem zahnlosen Mund, aus gruftigen Tiefen aufsteigend, um sich, dünnen Rauchkringeln gleich, alsbald in der Luft zu ver­lieren. Er streckt den Arm nach mir aus, legt seine Hand auf meine Stirn. Eine Energiewelle schießt in meinen Kopf, und ein merkwürdiges Gefühl, so ähnlich wohl wie bei einer Levitation, zwingt mich, einige Schritte zurückzutreten. Der Alte sagt irgendetwas in seinem Dialekt zu mir, das Bruno mir so übersetzt:
    Â»Warum bist du traurig? Du musst nicht traurig sein. Nur die Toten sind traurig, weil sie nicht mehr aufstehen können …«
    Ich verabschiede mich schnellstens und bitte Bruno, mich zum Modelldorf zu begleiten.
    Gerade ist der Unterricht zu Ende, und die Schüler, alle noch in ihren Kittelschürzen, stürzen unter schrillem Geschrei zum Fußballplatz. Wir sehen uns das Spiel an, das von beiden Mannschaften mit verbissenem Ernst betrieben wird, mit Attacken wie aus dem Lehrbuch und strenger Manndeckung.
    Da Elena, Orfane und Lotta noch immer nicht aufgetaucht sind, essen wir danach allein in der Kantine zu Abend. Obwohl sein Groll gegen mich verflogen scheint, wirkt Bruno ausgesprochen nervös. Er ist hin- und hergerissen zwischen seiner Angst, die Vertreter seiner Botschaft zu enttäuschen, und der Vorfreude darauf, seine Lebensgefährtin und die Freunde in Dschibuti wiederzusehen. Als ihm bewusst wird, dass man ihm jeden Gedanken von der Nasenspitze ablesen kann, reißt er sich zusammen. Er klappert mit seinem Löffel, rührt in der Suppe herum, tunkt sein Brotstück hinein, vergisst es dort.
    Â»Ist ja schon ein prachtvolles Geschöpf.«
    Â»Wer denn?«
    Â»Elena.«
    Bruno ist immer wieder für eine Überraschung gut. Man merkt zwar, dass er etwas im Schilde führt, weiß aber nie, worauf es hinausläuft. Ein schelmisches Lächeln huscht über sein Gesicht. Er hat mich in Verlegenheit gebracht, und meine Verwirrung schmeichelt seinem Selbstwertgefühl.
    Â»Ich habe dich beobachtet, vorhin auf dem Fußballplatz. Du bist jedes Mal zusammengezuckt, wenn du dachtest, du hättest sie in der Menge entdeckt.«
    Â»Ach was, so ein Unsinn«, stottere ich und ärgere mich über seine Taktlosigkeit.
    Â»Na, wenn du meinst …«
    Â»Ich nehme an, aus dir spricht mal wieder die berühmte afrikanische Neugier.«
    Â»Ich habe doch gesehen, wie du sie angeschaut hast, gestern, vorgestern und vorvorgestern. Deine Augen waren voll von Elena.«
    Â»Bitte, Bruno … Das ist wohl kaum der passende Moment.«
    Â»Das ist doch der Liebe egal. Wo sie sich zeigt, versinkt der Rest der Welt, alles andere kann warten.«
    Er taucht seinen Löffel in die Suppe, fischt das Stück Brot wieder heraus und führt es an die Lippen, während sein Blick sich schon wieder abgekapselt hat. Schweigend beenden wir unser Mahl, jeder sinniert vor sich hin, danach trennen sich unsere Wege.
    Ich kehre in Orfanes Pavillon zurück, dusche und lege mich schlafen. Ich versuche, an nichts zu denken, doch von wegen! Ich bin ein einziges Gedankenkarussell! Hier Jessicas Phantom, dort Jomas Geist, und ich mittendrin, voll unter Beschuss. Ich lösche das

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