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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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unwillkürlicher Reflex, sich festzuklammern, als eine bewusste Geste.
    Â»Dieser Kontinent, Kurt, ist heiliger Boden. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Die Menschen hier sind … Ich finde nicht die passenden Worte.«
    Â»Seltsam?«
    Â»Nicht im eigentlichen Sinne. Sie haben, wie soll ich sagen, etwas Allegorisches an sich, sind Träger einer Wahrheit, die zu hoch für mich ist. Und das geht mir durch und durch, es lässt mich geradezu erschauern. Diese Menschen sind wirklich noch vom Atem der Bibel beseelt. Von etwas, das auch meinen Glauben stärkt, aber was es ist, das weiß ich nicht genau.«
    Â»Vielleicht bist du einfach überarbeitet?«
    Â»Das hat damit nichts zu tun. Beim Roten Kreuz geht’s immer rund. Wir stehen ständig unter Strom, weil immer alles brandeilig ist. Aber das hier, das ist eine ganz andere Dimension, verstehst du …? Als die alte Frau heute früh die Augen aufschlug, da lag in ihrem Blick eine Art Offenbarung, die mich aufgewühlt hat. Als wäre ein Toter ins Leben zurückgekehrt … Ich … ich stehe immer noch unter dem Schock dieses Erlebnisses.«
    Heiliger Boden , denke ich. Da die Kultur, die mich geprägt hat, völlig inkompatibel ist mit diesem, wie ich finde, surrealistischen Hokuspokus, weiß ich mit solchen Statements nichts anzufangen. Seit dem Missverständnis, das fast meine Freundschaft zu Bruno zerstört hätte, ist mir jeder Verweis auf das übersinnliche Afrika unangenehm. Ich hasse es, über Themen zu diskutieren, die man zu keinem vernünftigen Ende bringen kann. Ich versuche, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Mein Unbehagen ist Elena nicht entgangen; sie runzelt die Stirn und fragt, ob sie mich nervt.
    Â»Wie kommst du darauf?«
    Â»Ich habe den Eindruck, dass ich dir mit meinen Phantastereien auf den Geist gehe …«
    Â»Nein, nein, ich höre dir zu. Ich weiß ja nicht viel von Afrika. Ich komme von einem Kontinent, der ein Wunder als einen sensationell glücklichen Zufall definiert.«
    Leicht irritiert kräuselt sie die Nase und seufzt:
    Â»Du hast ja recht … Es ist sicher sehr schwer, Zugang zu dieser Art von Geschichten zu finden, wenn man kein gläubiger Mensch ist … Magst du vielleicht ein Bier?«
    Da sage ich nicht nein. Sie verschwindet in ihrem Pavillon, lässt die Tür für mich offen, aber ich zögere. Sie kommt zurück, holt mich rein und entschuldigt sich für die Unordnung. Ihre Unterkunft ist identisch mit der von Orfane, ausgestattet mit zwei Polsterbänken, einem Wandschrank und einem kleinen Bad mit gekachelten Wänden. Ich setze mich auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch und schlage die Beine übereinander. Elena bringt mir ein Dosenbier und ein Glas.
    Â»Wer ist denn das?«, frage ich und deute auf ein Foto mit ­Autogramm, das an der Wand hängt und eine Farbige inmitten einer enthusiastischen Kinderschar zeigt.
    Â»Das da? Marguerite Barankitse.«
    Â»Eine afrikanische Sängerin?«
    Â»Von wegen! Eine Ikone der humanitären Hilfe.«
    Â»Aber sehr ansehnlich!«
    Â»An Herz und Geist. Sie ist eine außergewöhnliche Frau, eine große Kämpferin. Sie hat Zehntausende von Waisenkindern und Kindersoldaten aufgenommen, hat ein Krankenhaus, eine Schule und Farmen gebaut, um den Witwen und ihren Sprösslingen zu helfen. Ich gäbe alles dafür, wenn wir im Darfur das zustande brächten, was sie in Burundi geleistet hat.«
    Â»Ihr habt doch schon einiges auf die Beine gestellt.«
    Â»Wir könnten noch sehr viel mehr tun. Wir haben einfach nicht genug Pflegepersonal.«
    Sie setzt sich im Schneidersitz auf die Polsterbank, und trotz meiner guten Erziehung kann ich nicht anders, als ihre wohlgeformten Beine zu bewundern, deren Anblick die Shorts großzügig gewähren.
    Â»Ich sehe sonst gar keine Fotos«, bemerke ich.
    Sie lacht kurz auf, mit diesem impulsiven, hellen Lachen, das wie Vogelzwitschern klingt.
    Â»Verehrer habe ich keine, falls du das wissen willst.«
    Â»Das würde ich mir nie erlauben!«
    Zweifelnd zieht sie eine Augenbraue hoch und lässt mich erst einmal mein Bier austrinken.
    Â»Ich habe schon mit zwanzig geheiratet«, erzählt sie. »Einen attraktiven Andalusier. Er war intelligent und großzügig, aber sehr besitzergreifend, und ich liebte meine Unabhängigkeit. Er wollte mich ganz für sich allein und hat

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