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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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nicht mehr sehr heiß. Eine leichte Brise erfrischt die Luft. Elena löst ihr Haar, schüttelt es, und schon ergießt es sich über ihre Schultern. Ihre Hand greift nach meiner, und so laufen wir nebeneinanderher wie ein Liebespaar. Sie erzählt mir von einer ehemaligen Schulfreundin, aber ich höre kaum zu. Ihre Stimme genügt mir. Sie rankt sich um mein Schweigen. Nicht lange, und das Camp ist nur noch ein wogender Fleck hinter uns. Plötzlich stehen wir an ­einer steil abfallenden Geländekante und betrachten das Bild, das sich uns bietet. Eine breite Talsenke mit wucherndem Gebüsch, wilden Gräsern und Pflanzen, und mittendrin surrende Schwärme winziger Mücken. Die Vegetation ist grün und blühend, unvorstellbar in diesem Teil der Wüste. Frühlingsduft erfüllt den Ort, der von lautem Gezirpe erfüllt ist. Elena fotografiert mich aus unterschiedlichen Perspektiven, setzt sich dann im Schneidersitz auf den Boden und fordert mich auf, es ihr gleichzutun.
    Â»Neulich«, erzählt sie mir, »habe ich dort unten eine Herde Antilopen mit ihren Jungtieren grasen sehen. Es war wie ein Traum.«
    Â»Eine wahre Oase der Stille ist das, in der Tat«, pflichte ich ihr bei.
    Â»Ich komme oft hierher, um auszuspannen. Mit Strohhut gegen den Sonnenbrand und frischem Wasser in Reichweite kann ich Stunde um Stunde hier verbringen und auf die Rückkehr der Antilopen warten. Einmal habe ich sogar einen Schakal gesehen. Er lauerte da drüben. Als er mich plötzlich so nah vor sich sah, hat er mich argwöhnisch gemustert, so gründlich, als ob er mich scannen wollte.«
    Â»Er hätte dich angreifen können.«
    Â»Ich glaube nicht. Der Schakal lebt im Verborgenen und ist ein großer Feigling. Er geht kein Risiko ein, niemals. Wenn er sich seines Sieges nicht ganz sicher ist, greift er nicht an. Die wilden Hunde dagegen sind auch dann aggressiv, wenn du sie gar nicht bedrohst. Ein armer alter Nachtwächter hat es am eigenen Leib erfahren. Er hatte sich nachts verlaufen. Wir haben ihn nicht weit vom Lager gefunden. Er war völlig zerfetzt.«
    Â»Passiert hierzulande denn gar nichts Schönes?«
    Sie lacht.
    Â»Findest du diesen Ort hier denn nicht schön, Kurt?«
    Am liebsten würde ich ihr ja antworten, dass ich sie schön finde, sehr schön sogar, aber ich traue mich nicht. Sie umfängt mein Kinn mit grazilen Fingern, taucht mit ihrem Blick in meine Augen. Mein Herz donnert und tost. Das merkt sie natürlich. Sie nähert ihr Gesicht dem meinen, sucht meine Lippen, doch ihr Kuss wird auf halber Strecke vom Gelächter zweier Knirpse gestoppt, die unter uns aus den Büschen springen. Sie flitzen wie von der Tarantel gestochen die Böschung hinauf, bleiben kurz stehen, um sich über uns lustig zu machen, indem sie schmachtende Umarmungen mimen, dann sausen sie unter triumphalem Gelächter aufs Camp zu.
    Â»Wo kommen die denn jetzt her?« Ich bin verblüfft.
    Elena lacht schallend los, von der wilden Flucht der beiden Zwerge gerührt.
    Â»In Afrika«, klärt sie mich auf, »wendet sich der liebe Gott schon mal verständnisvoll ab, wenn ein Liebespaar zur Sache kommt, aber es wird immer irgendwo einen kleinen Jungen geben, der die beiden beobachtet.«
    Schon eine Woche ist seit dem Besuch der Delegation vergangen. Inzwischen bin ich zu Elena »umgezogen«. Tagsüber kümmere ich mich um meine Patienten. Abends flanieren wir zusammen rund ums Camp und kehren erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Von Zeit zu Zeit leistet uns Bruno mit einem oder zweien seiner mythischen Brüder Gesellschaft. Für den Franzosen ist jeder Afrikaner ein Roman. Im Grunde ist es aber Bruno selbst, der ihn dazu macht. So hat er uns zum Beispiel Bongo vorgestellt, einen Jugendlichen, der dreitausend Kilometer zu Fuß gelaufen ist, ohne Führer und ohne einen Cent in der Tasche, nur um das Meer zu sehen. Der Junge hat sein nigerianisches Dorf verlassen, um nach Europa zu gehen. Ein Schlepper hatte ihm versprochen, ihn dorthin zu bringen, wenn er ihm den Schmuck seiner Mutter überließe, und dann hat er ihn mitten in der Ténéré-Wüste sitzenlassen. Der Junge ist monatelang durch die Wüste geirrt, hat sich irgendwie durchgeschlagen, wer weiß wie überlebt, bis er eines Tages zufällig hier im Camp gelandet ist. Am Tag nachdem Bruno ihn uns vorgestellt hat, ist der Junge auch schon wieder

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