Die Landkarte der Finsternis
Flüchtlinge gestoÃen sind; den Ort, wo der Hirte die Piraten zusammen mit dem schwerverletzten Hans beherbergt haben will; den Ort, wo Hauptmann Gerima uns (den Beschreibungen nach, die wir von diesem Vorposten und der Landschaft ringsum gemacht haben) gefangen gehalten hat. Der Offizier gesteht, dass es ihm unbegreiflich ist, warum die Entführer sich einen so abgelegenen und menschenfeindlichen Ort ausgesucht haben, statt in Somalia zu bleiben, wo der Geiselhandel in der Regel kaum Probleme macht. Er erklärt uns, dass die Rebellen normalerweise lieber in Grenznähe operieren, um im Fall einer überstürzten Flucht schnell ins Nachbarland zu gelangen und so den Nachstellungen der jeweiligen Regierungsarmeen zu entgehen. Bruno erinnert ihn daran, dass wir nicht da sind, um eine Lektion in Militärtaktik über uns ergehen zu lassen, sondern um Hans Mackenroth zu finden; ungerührt setzt der Offizier seine Darstellung fort. Nachdem er uns den Sachverhalt anhand der Landkarte erschöpfend erläutert hat, geht er zu seinen Karteien über. Gleich als Erstes teilt er uns mit, dass die Nachrichtendienste keinerlei Informationen über den Pseudo-Hauptmann Gerima haben und dass kein desertierter Unteroffizier seiner Beschreibung entspricht.
»Gerima war aber in der Armee«, wendet Bruno ein. »Er ist ja auch kein Sudanese oder Somalier. Er stammt aus Dschibuti und spricht flieÃend Französisch. Bevor ihn ein Militärgericht wegen Veruntreuung verurteilt hat, diente er in der regulären Armee.«
Der Offizier reagiert gereizt auf Brunos Einwurf. Er scheint es nicht gewohnt zu sein, dass man ihm widerspricht, und empfindet Brunos Verhalten wohl als Aufsässigkeit oder Missachtung seiner Amtsautorität. Er wartet, bis Bruno den Mund hält, erst dann redet er weiter:
»Moussa, der Boss, dagegen ist den Geheimdiensten beider Länder wohlbekannt. Er wird sowohl in Somalia als auch bei uns aktiv gesucht. Nun wollen wir, wenn Sie gestatten, einmal sehen, ob es hier einige Gesichter gibt, die uns weiterhelfen können.«
Er dreht seinen Computer zu uns herum und lässt Fotos von Männern und Jugendlichen über den Bildschirm laufen.
»Aber Vorsicht, das sind nicht alles Kriminelle. Das Einzige, was sie verbindet, ist eine Schusswaffenverletzung. Sämtliche Krankenhäuser, Kliniken, Behandlungszentren und sonstigen medizinischen Einrichtungen sind gehalten, der Polizei jeden Neuzugang mit Schussverletzung zu melden. Ausnahmslos jeder, der eine Schusswunde hat, wird in der nächsten Minute schon unseren Nachrichtendiensten gemeldet. Hier haben wir zum Beispiel Hirten, die von Viehdieben angegriffen wurden, Fernfahrer, die Wegelagerern in die Falle gegangen sind, Leute, die einer verirrten Kugel zum Opfer fielen, andere, die im Verlauf von Stammesfehden verletzt wurden, aber auch Dealer und Banditen, die der Polizei ins Netz gegangen sind, Schmuggler, Rebellen und Terroristen ⦠Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie sie einmal durchsehen und mir sagen könnten, ob Ihnen das eine oder andere Gesicht bekannt vorkommt.«
Wir identifizieren Ewana und einen weiteren Piraten, den Fahrer des Motorradgespanns. Der Offizier sucht in seiner Kartei herum und klärt uns auf, dass beide Verdächtige in ein und derselben Nacht in ein und demselben Landkrankenhaus aufgenommen worden seien; dass der erste, Babaker Ohid mit Namen, einunddreiÃig Jahre alt, verheiratet, vier Kinder, von Beruf Viehhändler, zwei Kugeln abbekommen habe, einen Oberschenkel- und einen GesäÃschuss, und es den zweiten, einen gewissen Hamad Tool, sechsundzwanzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, ehemaliger Champion im Marathonlauf, zuletzt als Schrotthändler tätig, an der Hüfte erwischt habe. Er fragt uns, ob wir uns auch wirklich absolut sicher sind. Wir erklären, dass es für uns nicht den geringsten Zweifel an der Identität beider Personen gibt. Er schaltet seinen PC aus, packt seine Unterlagen zusammen, stellt uns noch eine Handvoll Fragen, notiert die Antworten in ein Buch und verabschiedet uns.
Bruno kehrt zu seinen Brüdern zurück, ich zu meinen Patienten.
Am Abend macht Elena mir den Vorschlag, mir ein ruhiges Plätzchen zu zeigen, das ein paar hundert Meter östlich des Camps liegt. Wir schlendern zu Fuà dorthin. Die Sonne ist noch nicht ganz untergegangen, ihre schrägen Strahlen ziehen die Schatten am Boden in die Länge. Es ist
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