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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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selbst bewiesen, dass ich noch lebe. Ich bin überrascht, in ihrem Bett aufzuwachen. Überrascht, aber auch beruhigt. Die intime Nähe zu Elena war mehr als eine bloße Zuflucht für mich, sie hat mich mit mir selbst versöhnt. Elena ist verwirrt. Macht sie sich Vorwürfe, sie hätte die Situation ausgenutzt? Wenn sie das glaubt, dann irrt sie sich. Ich brauchte einen Halt, Geborgenheit, und Elena war wie eine feste Burg. Und wie mich ihren Lippen verweigern, die mir doch eine Seele einhauchten …? Hatte sie mir nicht erst neulich gestanden, dass sie sich einsam fühlte? Indem wir uns liebten, haben wir gemeinsam einem Schicksal getrotzt, das die Wegweiser aus unserem Leben nahm.
    Sie hat schon Kaffee gekocht, ihn auf den Nachttisch gestellt und sich danach im Bad angezogen. Ihr Blick kreist mehrmals unschlüssig ums Bett, kommt dann frontal auf mich zu.
    Â»Jetzt, da du beschlossen hast, im Lager zu bleiben, was willst du da den lieben langen Tag tun?«, fragt sie mich.
    Ich antworte ihr, dass ich, wenn sie nichts dagegen hat, gern meine Arbeit wieder aufnehmen würde. Die Patienten wären bestimmt alle sehr froh, von mir verarztet zu werden, versichert sie mir. Ich verspreche ihr, in den Behandlungsraum nachzukommen, sobald ich geduscht habe.
    Elena hat schon die Hälfte aller Patienten abgehorcht, als ich in der Krankenstation auftauche. Gerade ist sie am Bett der alten, wie durch ein Wunder geretteten Dame, die intensive Betreuung erhält. Ihr Sohn, der junge Karrenzieher, liegt im Nebenbett. Nicht eine Sekunde lässt er seine Mutter aus den Augen … Elena stellt mich ihren Patienten vor. An die dreißig Kranke, die von überall her kommen, Greise, Frauen und Kinder, meist Überlebende von Raubüberfällen. Orfane bringt mir einen weißen Arztkittel und ein Stethoskop und weist mir eine Reihe Betten zu. Zehn Minuten später sind meine ärztlichen Reflexe reaktiviert. Ein kleiner Junge packt mich am Handgelenk. So, wie er aussieht, ein hoffnungsloser Fall. Mit seinem kahlen, glänzenden Schädel, den kaum sichtbaren Augenbrauen und seinem gelblichen Teint ähnelt er einem Riesenkürbis auf einem Skelett. Seine Gesichtshaut knittert wie Pergamentpapier, als er mich anlächelt:
    Â»Stimmt es, dass es in Deutschland Glashäuser gibt, die so hoch sind, dass sie an die Wolken stoßen?«
    Â»Ja, das stimmt«, antworte ich, setze mich an sein Bett und nehme seine Hand in meine Hände.
    Â»Und darin leben Leute?«
    Â»Ja.«
    Â»Und wie kommen die bis ganz nach oben?«
    Â»Sie nehmen den Aufzug.«
    Â»Was ist denn ein Aufzug?«
    Â»Ein Käfig. Man betritt ihn, drückt auf einen Knopf mit einer Nummer, und dann fährt der Käfig wie von selbst nach oben.«
    Â»Das ist ja Zauberei … Wenn ich gesund bin, gehe ich dahin, wo du herkommst, und sehe mir diese Glashäuser an.«
    Mitsamt seinem Lächeln sinkt er ins Bett zurück und schließt die Augen.
    Orfane informiert mich, dass Christophe Pfer in seinem Büro auf mich wartet. Ich horche noch eben die übrigen Patienten ab, dann begebe ich mich zu ihm.
    Bruno ist schon da, hat das Sofa okkupiert, die Arme über der Rückenlehne, die Beine übereinandergeschlagen. Außer ihm ist nur der sudanesische Offizier anwesend, der uns begrüßt, ohne den Hauptmann und ohne den Leiter des Camps. Wir berichten ihm in allen Einzelheiten von unserer Entführung, von Anfang an: von dem Hinterhalt, in den Bruno kurz vor Mogadischu geraten war, dem Überfall auf die Segelyacht, der entsetzlichen Irrfahrt durch den Busch und die Wüste, dem verlassenen Militärstützpunkt, an dem Hauptmann Gerima uns eingebuchtet hat, von Moussa, dem Boss, und Joma, dem Seeräuberpoeten, von Hans’ Verlegung und dem entscheidenden Duell, das uns die Flucht überhaupt erst ermöglicht hat, und von der Begegnung mit Elena Juarez und ihren Flüchtlingen. Während unserer ausführlichen Schilderung unterbricht der Offizier uns kein einziges Mal; ich vermute, er nimmt unseren Bericht mit dem Diktiergerät auf, das auf Christophe Pfers Schreibtisch liegt. Als wir fertig sind, bittet er uns zufrieden um unsere Aufmerksamkeit und wendet sich einer Landkarte zu, die an der Wand hängt. Mit einem Teleskop-Kugelschreiber weist er auf drei Punkte, die er mit einem kleinen blauen Dreieck verbindet: den Ort, wo wir, Bruno und ich, auf Lotta Pedersen und die

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