Die Landkarte der Finsternis

Reichtum (anderer Art als der, auf den alle aus sind) erklärt hat und ihre Schönheit, die die Schönheit einfacher Dinge ist, jener kleinen Signale der Brüderlichkeit zwischen völlig Fremden zum Beispiel, die dieselbe Tragödie überstanden haben oder die spontan Menschen in Not auf grandiose Art zu Hilfe geeilt sind. Wird er mir fehlen? Auf mehr als eine Art, so viel ist gewiss. Er wird ein wenig wie der »Zwillingsbruder« aus Jomas Gedicht für mich sein, nur dass ich mich niemals von ihm lossagen werde. Wo auch immer ich bin, wird er sich in meinem Schatten ducken wie ein freundlicher Stern in den Tiefen der Nacht, und unwillkürlich werde ich lächeln müssen, wenn ein Geräusch, eine Musik oder ein schwebendes Licht mich an Afrika erinnert, wo eine Welt erlischt, damit eine andere, erfüllt von Kindergesang, erwachen kann.
    Bruno ist noch keine fünf Tage fort, und schon ist mir, als hätte ich ihn geträumt. Immer wenn ich an dem Zelt vorbeikomme, in dem er inmitten der Seinen die Zeit bis zur Klärung seiner Situation verbracht hat – den Pavillon, den Christophe Pfer ihm anbot, hatte er abgelehnt –, glaube ich sein afrikanisches Lachen zu hören, das sich aus gutturalen Tiefen aufschwingt und in einem hellen Wiehern verklingt. Bruno lachte über alles, über sein Missgeschick ebenso wie über seine Heldentaten … Eine seltsame Person, das war er schon! Nicht die leiseste Verbitterung hat je seinen unverbrüchlichen Glauben an die Menschheit ins Wanken gebracht. In der Torheit der Menschen sah er nur einen bestürzenden Mangel an Reife, der ihnen selbst mehr schadete als den anderen. Wenn mir in schlaflosen Nächten die Zeit lang wird, spiele ich Kombinationen durch, um den Schlüssel für seine Mentalität zu finden und zu begreifen, wie er tickt, aber der Zugangscode ändert sich von Mal zu Mal. Auf den Grund welchen Geheimnisses ist er auf diesem Erdteil vorgestoßen? Welche Weisheit hat er hier in den Jahrzehnten seines Umherschweifens erworben? Die Antwort hat er mit sich genommen. Ob ich ihn jemals wiedersehe? Ich glaube kaum. Ich werde in meine Wohlstandsblase zurückkehren und als Einäugiger sterben, wie es prophezeit worden ist … Wenn sich aus der irdischen Existenz eine Lehre ziehen ließe, dann wohl diese: Wir sind weiter nichts als Erinnerungen! Eines Morgens sind wir, eines Abends sind wir nicht mehr. Nur ein Echo lassen wir zurück, das zunehmend verblasst und ins Vergessen absinkt, ohne dass das Gedächtnis groß etwas dagegen unternimmt. Was bleibt mir von Bruno? Was bleibt mir von Hans? All das, was ich mir nicht zu bewahren wusste: der Klang einer Stimme, ein schwindendes Lächeln, Umstände, die der Zerrspiegel der Zeit deformiert, viele Leerstellen und eine große Katerstimmung. Nun, da sie nicht mehr hier sind, wird mir erst bewusst, wie unhaltbar jede Wahrheit in dieser launenhaften Welt doch ist … Und danach …? Danach schließt sich der Kreis; man fängt bei null wieder an und lernt neu zu leben, zu leben mit dem, was man nicht mehr hat. Da die Natur einen Horror vor der Leere hat, schafft man sich neue Anhaltspunkte. Aus reinem Egoismus … Elena weiß genau, dass unsere Beziehung keine Zukunft hat. Auch ich weiß es. Doch das hindert uns nicht, den Augenblick zu genießen … Ich habe Freunde unter den Flüchtlingen gefunden. Malik, den kleinen Jungen, der so scharf auf meine Taschenlampe war. Er kommt mich regelmäßig besuchen und bringt es jedes Mal fertig, nicht mit leeren Händen zu gehen; Bidan, den sagenhaften Schlangenmenschen, der in die kleinste Hundehütte passt, die gerade für einen Welpen reicht; den alten Hadschi, der die Zukunft aus dem Sand liest und von früh bis spät an seiner Pfeife zieht; Forha, den Einarmigen, der schneller in seine Kleidung kommt, als sich ein Matrose zum Gefecht klarmacht; und den sprudelnden Onkel Mambo, der die tolldreistesten Geschichten auf Lager hat und felsenfest glaubt, dass Neil Armstrong nie einen Fuß auf den Mond gesetzt hat … Aber Interimslösungen sind kapriziöse Kreditanstalten; sie fordern das geborgte Leben von heute auf morgen zurück. Und wovor ich mich heimlich gefürchtet habe, das holt mich endlich ein. Gestern Abend sind drei Bauarbeiter vom Gerüst gestürzt und haben sich schwer verletzt. Ich habe die ganze Nacht über dem Chirurgen assistiert, der sie