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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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begründen soll. Das Ganze hat keinen Sinn, sage ich mir wieder und wieder, mein Vater dürfte mich kaum wiedererkennen. Ich war vierzehn, als er alle Brücken hinter sich abgebrochen hat. Und schon damals würdigte er mich kaum eines Blicks. Er kam immer erst spätnachts nach Hause, und am nächsten Morgen war er wieder weg. An Feiertagen war er grundsätzlich nicht da, und meinen Geburtstag vergaß er genauso wie den meiner Mutter. Oft tauchte er wochenlang ab, ohne ein Wort oder eine Adresse zu hinterlassen, unter der er notfalls erreichbar wäre. Und wenn er wiederkam, gab es stets ein Donnerwetter. Ich sehe ihn noch durch die Diele torkeln, mit sabberndem Mund, die Hand zur Ohrfeige erhoben. Es war immer eine polternde Rückkehr; die Nachbarn klopften an die Wände, riefen manchmal sogar die Polizei. Ich schloss mich in meinem Zimmer ein und betete, er möge verschwinden und nie wiederkommen … Und eines Abends, als seine Zigarettenschachtel leer war, hat er die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, um irgendwo noch eine Kippe zu finden. Er war wie ein Junkie auf Entzug. Nachdem er meine Mutter zur Schnecke gemacht hatte, der er die Schuld an jedem Unglück gab, das uns traf, war er gegangen und hatte sich nie wieder blicken lassen. In dieser Nacht muss es einen Gott gegeben haben, denn mein Gebet wurde erhört.
    Ich komme gegen 11 Uhr morgens im Pflegeheim an. Zum Glück ist der Himmel strahlend blau, und die Sonne, rund wie ein Kürbis, lässt die Anstalt in einem freundlichen Licht erscheinen. Die Leiterin empfängt mich in ihrem nüchternen Büro, beruhigt mich bezüglich des Gesundheitszustands meines Erzeugers, stellt mir jede Menge Fragen über mein Verhältnis zu ihm und will wissen, ob ich vorhabe, ihn in ihrer Obhut zu belassen, denn auf sich gestellt, versichert sie mir, käme er ja überhaupt nicht zurecht und wäre hier im Heim, wo kompetente Fachkräfte sich ihrem Beruf mit großem Engagement widmen, sehr viel besser untergebracht. Sie läutet nach einer Pflegerin und bittet mich, ihr zu folgen.
    Wir durchqueren einen herrlichen Park, in dem die Patienten Sonne und Sauerstoff tanken. Vorbei an alten Männern in Korbsesseln mit Decken über den Knien, gebrechlichen Gestalten, die über die Wege schleichen, und geschäftigem Personal. Düstere Melancholie trübt das Tageslicht. Ich folge der Pflegerin durch einen Schlafsaal, der wie ein Sterbehaus wirkt. Einige Schattengestalten schleppen sich durch enge Gänge, manche schleifen Infusionsgalgen oder ähnliches medizinisches Gerät mit sich herum. Das Zimmer meines Vaters liegt am Ende des Korridors, ganz in der Nähe der Treppe. Die Pflegerin öffnet die Tür, ohne anzuklopfen, und macht dann Platz, um mich durchzulassen. Ein Greis hängt schlaff in einem Rollstuhl. Das also ist mein Vater, oder besser gesagt das, was von ihm übrig ist: ein Knochenbündel in einer grauen Stoffjacke. Ich kann nur seinen ungekämmten Schädel sehen, seinen faltigen, kreidebleichen Nacken und seinen klapperdürren Arm, der über der Lehne baumelt. Er dreht sich keineswegs um, als er unsere Schritte hinter sich hört. Kein Mensch hat ihn besucht, seit er hier eingeliefert wurde. Das weiß ich von der Heimleiterin. Und als man ihm meinen Besuch angekündigt hat, da hat er weder ja noch nein gesagt, undurchdringlich wie eine Sphinx … Die Pflegerin zieht sich zurück. Ihre Absätze klappern über den Korridor. Ich schließe die Tür. Mein Vater schaut weiter beharrlich durch die Balkontür in den Park. Mir ist klar, dass er sich nicht umdrehen wird. Er hatte noch nie den Mut, einem offen ins Gesicht zu sehen. Wenn er von seinen Sauftouren nach Hause kam, floh ich ins Kinderzimmer und hielt mir die Ohren zu, um ihn nicht herumgrölen und die Möbel umstoßen zu hören. Habe ich ihn wenigstens einen Augenblick lang geliebt? Bestimmt. Jedes Kind sieht in seinem Vater einen Gott. Aber diese Illusion habe ich vermutlich schon in jungen Jahren verloren, als ich merkte, dass man kein Held sein muss, um ein Kind in die Welt zu setzen, dass ein Nichts schon genügt oder ein Unfall. Hat mein Vater mich je geliebt? Gemerkt hat man davon nichts … Und in dem Moment, in dem ich zu ihm ins Zimmer hereinkomme, entscheidet er sich erneut fürs Fernbleiben; er schaut nicht etwa hinaus in den Park – oh nein, er tritt die Flucht nach vorne an. Er

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