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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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hatte mir einen Brief geschickt. Einen einzigen. Auf den Tag seiner Aufnahme hier im Heim datiert. Eine Art Schuldbekenntnis. Vermutlich hatte er Angst, ich würde mich weigern, seine Rechnungen zu bezahlen. Deine Mutter war ein guter Mensch , hat er geschrieben. Ich bin gegangen, weil ich ihrer nicht würdig war . Da sagte er mir nichts Neues. Er war ein Lumpenhund, ein Schmarotzer, der eine aufopferungsvolle Frau ausnahm, eine Märtyrerin des heiligen Ehegelübdes, die an die guten Tage glaubte, während sie die schlechten durchlitt. Ich habe euch nicht im Stich, sondern in Ruhe gelassen. Weiter habe ich seinen Brief nicht gelesen. Er war mir buchstäblich aus den Händen geglitten, denn er klang so falsch wie Paradiesglocken.
    Ich warte. Auf irgendein Lebenszeichen von ihm, und sei es nur ein Zucken. Aber mein Vater rührt sich nicht. Verbirgt sein Gesicht vor mir. Kopfschüttelnd schicke ich mich an zu gehen, da kriecht seine brüchige Flüsterstimme auf mich zu wie eine ersterbende Welle:
    Â»Danke.«
    Mehr sagt er nicht. Und sieht weiter hinaus in den Park.
    Ich gehe, ziehe die Tür hinter mir zu, warte noch eine Weile auf dem Gang. Dann, in dem Bewusstsein, dass zwischen uns alles gesagt ist, selbst wenn ich kein Wort gesagt habe, eile ich die Treppe hinunter zur Pflegerin.
    Ich fahre wie in Trance.
    Ich komme an Städten und Dörfern vorbei, ohne zu wissen, wo ich bin, vor mir quer über der Windschutzscheibe das Phantom eines Dahinsiechenden im Rollstuhl.
    Wohin wird mich das noch führen?
    Ich nehme die nächste Ausfahrt von der Autobahn. Auf einer verschlungenen Asphaltschnur gleite ich durch eine weite Landschaft voller Gehöfte und Obstplantagen, bis ich zu einem Marktflecken gelange, der hinter Dunstschleiern verborgen liegt wie eine verbotene Frucht. Ein schlichter Kirchturm wacht würdevoll über seine kleine, schiefergedeckte Häuserschar. Die Straßen sind in meditativer, von Kälte durchdrungener Stille versunken. Ich halte Ausschau nach einem Wegweiser, finde keinen, bremse vor einer Kneipe und stelle den Motor ab. Es ist, als hätte die Müdigkeit nur auf diesen Moment gewartet, um über mich herzufallen. Meine Schultern sacken unter der gesammelten Last der Kilometer zusammen, und ich merke, wie verspannt mein ganzer Körper ist. Über den Lenker gesunken versuche ich, wieder ein wenig zu Kräften zu kommen und, so weit möglich, zu klarem Verstand … Essen, München, Stuttgart, Nürnberg, Dresden, Leipzig … Was hat diese Tour zu bedeuten? Warum wird die Gestalt meines Vaters, den ich definitiv aus meinem Leben verbannt zu haben glaubte, plötzlich zu einer unumgänglichen Figur auf meiner Route? Worum um alles in der Welt wollte ich am Grab meiner Mutter, das ich seit Jahren nicht mehr geschmückt hatte, um Vergebung bitten? Und was für kluge Ratschläge sollten meine alten Freunde auf Lager haben, die mir helfen könnten, leichter auf die Beine zu kommen, wenn ein widriger Wind mich zu Boden drückt …? Die Eintönigkeit dieser Ortschaft schreckt mich auf. Ich muss irgendwie feststellen, wo ich hier bin und wie ich wieder nach Frankfurt komme. Ich beuge mich über das Handschuhfach und suche nach einer Karte, finde aber nur eine Schachtel Zigaretten, die wer auch immer dort vergessen hat. Bevor ich mich zur Ordnung rufen kann, rauche ich schon. Der erste Zug steigt mir betäubend zu Kopf. Ich hatte an dem Abend, an dem ich meine ärztliche Prüfung ablegte, mit dem Rauchen aufgehört, eine Ewigkeit ist das jetzt her … Die beschlagene Windschutzscheibe ist so trist wie meine Gedanken. Ein Apothekenschild leuchtet an der Fassade eines kleinen Ladens. Ein Mädchen mit Kapuze huscht über die Straße. Einige Regentropfen nässen die Dächer … Essen, München, Stuttgart, Nürnberg, Dresden, Leipzig und was sonst noch alles …? Selbst wenn ich alle Städte Deutschlands abklapperte, was hätte ich davon? Was mich bedrückt, werde ich dadurch genauso wenig los wie meinen Schatten. Ich weiß es doch. Das, wovor ich davonlaufe, steckt in mir selbst. Egal, wohin ich gehe, es ist immer schon da, tief in mir drin, spottet meiner Schwächen und durchkreuzt meine Ablenkungsmanöver. Mir wird nichts übrigbleiben, als ihn zu bannen, den alten Dämon, ihn aufzuspüren und auszuquartieren, ihn aus meinem Körper zu verscheuchen. Mit bloßen Händen oder

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