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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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dieses Erlebnis ließe sich doch mit Willi Adler wiederholen, einem ehemaligen Kommilitonen, der in Stuttgart wohnt. Gleich morgen früh werde ich seine Adresse heraussuchen und ihn anrufen.
    Willi ist hocherfreut über meinen Besuch. Er hat es im Leben zu etwas gebracht. Als Chef eines florierenden Unternehmens leistet er sich eine schicke Villa in Stuttgarts Nobelviertel und eine hinreißende Frau. Er lässt die beiden Kinder in der Obhut eines Babysitters und entführt uns, seine Gattin und mich, in ein prachtvolles Restaurant am Neckarufer. Den ganzen Abend erzählt er nur von seiner Karriere, von den Millionenverträgen, die er ausgehandelt hat, und von seinen hochfliegenden Plänen. Ich stelle fest, dass er vor der Zeit gealtert ist; die wilde Mähne, mit der er zu Studienzeiten Eindruck geschunden hat, als er in einer Amateurband Gitarre spielte, ist einer Glatze gewichen. Das ist nicht mehr der Willi aus unseren wilden Zwanzigern. Er hört kaum noch zu, und sein Lachen dröhnt wie das Angriffshorn der Kavallerie. Seine Frau beobachtet uns schweigend. Sie scheint sich zu langweilen und sieht sich immerzu um, wohl aus Sorge, das laute Organ ihres Mannes könne die Ruhe unserer Tischnachbarn stören. Als dann der Wein seine Wirkung tut, fängt Willi erst richtig an auszupacken. Er gesteht mir, dass er es war, der mir am Abend unseres Examensballs Maschinenöl in die Nachttischschublade geschüttet und in mein Bett gepinkelt hat. Seine Pupillen funkeln mich provokant an, und ich stelle staunend fest, dass der Junge, den ich für meinen besten Freund gehalten hatte, mir alles andere als zugetan gewesen war, dass er heimlich in das Mädel verliebt war, mit dem ich damals ging, und es mir furchtbar übelnahm, dass ich ihn in den Schatten stellte. Als er merkt, dass seine Vorhaltungen selbst den Paaren an den Nachbartischen auf die Nerven gehen, steigert das nur seine Angriffslust. Seine Frau wirft mir flehentliche Blicke zu, die Entgleisungen ihres Gatten dem Alkohol zuzuschreiben. Willi hat vom Alkohol schon immer schlechte Laune bekommen, aber heute Abend geht er entschieden zu weit. Aus Rücksicht auf seine Frau lasse ich ihn reden, ohne eine Miene zu verziehen, aber ich habe nur den einen Wunsch, dass er endlich schweigt. Nach dem Dinner gehen wir in die empfindlich kühle Nacht hinaus. Willi ist sturzbetrunken, kann sich kaum auf den Beinen halten. Er schnauzt den Angestellten an, der ihm seine Luxuslimousine nicht unverzüglich vorgefahren hat, dann beugt er sich zu mir und nuschelt mir ins Ohr: »Nichts für ungut, Kurt. Du weißt, ich habe immer mit offenen Karten gespielt.« Seine Frau hilft ihm auf den Beifahrersitz und entschuldigt sich, bevor sie sich ans Steuer setzt, noch einmal hilflos bei mir: »Es tut mir wahnsinnig leid. Willi benimmt sich den meisten Leuten gegenüber so.«
    Ich schlage die Wagentür zu und lasse die beiden ohne jedes Bedauern fahren.
    Dann laufe ich noch eine Weile ziellos durch die Stadt, bis der Regen mich schließlich ins Hotel zurücktreibt.
    Am nächsten Morgen fahre ich erst nach Nürnberg, wo ich zwei Tage durch die Stadt flaniere, dann weiter nach Dresden, um das historische Zentrum zu besichtigen. Nachts kommt mir plötzlich mein Vater in den Sinn. Ich dachte, ich hätte ihn definitiv aus meinem Gedächtnis gestrichen, so sehr habe ich ihn gehasst. Er war ein furchtbarer Grobian, ein Säufer, der sich die meiste Zeit in zwielichtigen Bars herumtrieb und uns abends das Leben zur Hölle machte … Ein Jahr ist es jetzt her, da klingelte in meiner Praxis das Telefon. Die Direktion eines Altenpflegeheims in Leipzig war dran. Die Dame am anderen Ende der Leitung teilte mir mit, dass ein gewisser Georg Krausmann bei ihnen eingeliefert worden sei, der dringend eine Entziehungskur brauche und bei mir anfragen ließe, ob ich die Kosten übernähme. Ein Schlag mit der Keule auf den Hinterkopf hätte mich nicht schlimmer treffen können als dieser Anruf. Minutenlang brachte ich kein Wort hervor, dann habe ich nur »ja« gesagt und wieder aufgelegt.
    Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, was in mir vorgegangen ist. Es war, als hätte eine unwiderstehliche, magnetische Anziehungskraft mich ans Steuer meines Wagens gezwungen und auf direktem Weg nach Leipzig geschickt. Unterwegs zerbreche ich mir den Kopf, was ich meinem Vater erzählen und wie ich diesen Besuch bei ihm

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