Die Landkarte der Finsternis
sich in den Schaufenstern der Zeil, spielt mit mir Versteck im Palmengarten, spaziert anstelle der Touristen über den Römer, setzt sich in Szene auf dem Opernplatz. Macht sich sämtliche Räume, Lichter und Schatten zu eigen und verwandelt sich in den Puls jeden Stadtteils, der nur noch dank ihm sprudelt und sprüht, bebt und lebt. Jessica ist das lebendige Gedächtnis Frankfurts. In Ernoâs Bistro , dem französischen Restaurant, sitzt sie schon am Tisch, die Finger unterm Kinn verschränkt, ihr Blick so azurblau wie der Sommerhimmel. Sie lächelt mir zu, weigert sich, sich in Luft aufzulösen, und wenn ich noch so sehr die Augen zukneife. Ihr Parfüm umschwebt mich, mumifiziert mich. Ich trete den Rückzug an, schlendere weiter, steige wieder in mein Auto, halte irgendwo an, bummele über Bürgersteige, betrete eine Bar ⦠Da sitzt sie schon am Tresen, Jessica, ins Dämmerlicht getaucht, und ähnelt so sehr meiner blondgelockten Herzensdame, mit der ich nach der Arbeit immer fürs Kino verabredet war. Bevor ich auch nur einen Drink bestellen kann, bin ich schon wieder drauÃen und beschleunige den Schritt, um Abstand zu den Warteschlangen der Kinogänger zu gewinnen, von denen mich jeder einzelne irgendwie an Jessica erinnert â¦
Ich kann nicht mehr.
Ich fahre nach Hause.
Um die Stimmen loszuwerden, die mich verfolgen, mache ich gewissenhaft mein Bett, sortiere meinen Kleiderschrank, putze meine Schuhe, reinige die Jalousien, poliere meinen Mahagoninachttisch und mache, nach wie vor im Schlafzimmer, Anprobe vor dem Spiegel, ziehe einen Anzug nach dem anderen an, kontrolliere Krawatten, Hemdkragen und Hosenfalten und stürze mich dann mit solch unnatürlicher Verve auf meine Schlafanzüge, dass mir fast die Tränen kommen. Nachdem ich meinen Zirkus beendet habe, lasse ich mich auf die Bettkante fallen, stütze den Kopf in beide Hände und sehe ein, dass ich im Begriff bin, den Faden einer zerfaserten Geschichte zu verlieren, in der ich nur noch ein Fremder bin.
Ich habe mir eine Pizza bestellt und mich damit vor den Fernseher gesetzt. Ich überspringe die Nachrichten mit ihrer geballten Ladung an Chaos und Tragödien, drücke eine Reality-Show weg, bleibe bei glamourösen Topmodels hängen, die sich wie auf einer Zauberbühne am laufenden Band präsentieren. Eigentlich will ich gleich weiterzappen, aber irgendwie kann ich nicht. Ich komme nicht von der Modenschau los. Eine absurde Wut steigt in mir auf. Ich fühle mich persönlich angegriffen, doch ich bringe es nicht über mich umzuschalten. Eine anonyme Kraft hält mich bei den im Scheinwerferlicht glitzernden Mannequins fest. Die unterschwellige Botschaft dieser Bilder besagt, dass die Pailletten im Blitzlicht der Fotografen stärker funkeln als die Sterne im Licht der Sonne am Himmelszelt. Es ist der schamlose Exhibitionismus des falschen Scheins, des Aufgedonnerten und Aufgetakelten, das sich mit stolzgeschwellter Brust präsentiert. Ein paar kokette Schritte auf der Bühne, und die Welt wirft sich anbetend diesen rekonturierten, silikonierten, schrill geschminkten Weibern zu FüÃen. Ich suche nach einer Moral in ihrem Narzissmus und kann nichts wirklich Verdienstvolles darin entdecken, schon gar nicht in ihrer unfassbaren Anorexie, dieser freiwilligen Hungerleiderei, die als wichtigster MaÃstab der Perfektion gilt. Ich habe in Afrika bis aufs Skelett abgemagerte Wesen gesehen. Mit Vakuumbäuchen, kraftlosen Brustkörben und aufgerissenen Mündern, auf deren Lippen das Stöhnen erstarb. Ich nehme an, dass dort der Laufsteg keine so groÃe Anziehungskraft ausübt mit seinen Heerscharen Verdammter, die ihn beschreiten â ein Steg voll mörderischer Fallen, gesäumt von Kadavern, die keiner bestattet, die unter freiem Himmel verwesen und so schaurig aussehen, dass selbst der Geier sie nicht will. Hierzulande liegen die Dinge anders: Schönheit ist ein bewährtes Talent, der Hüftschwung eine Kunst, das Schlussfoto ein magischer Moment, der den Nachruhm derer sichert, die vor keinem Kompromiss zurückschrecken ⦠Ein paar Tanzschritte, ein glutvoller Blick, eine laszive Pirouette als Zugabe, und schon wird man in den Himmel gehoben. Was soll man kostbare Zeit an Akademien verlieren, wenn es reicht, seine schönen wimperngetuschten Augen aufzuschlagen, um jede Supernova in den Schatten zu stellen. Wenn es Geld regnet, wird von den
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